[WOS] WOS @ CCC '99
Florian Cramer
wos@mikrolisten.de
Wed, 12 Jan 2000 01:05:55 +0100
Am Fri, 07.Jan.2000 um 16:45:23 +0200 schrieb Volker Grassmuck:
> OS = Basisschicht, die Kommunikation und Interoperabilität ermöglicht,
> also Netz und OSs im engeren Sinne. OS = Infrastruktur; das, was nicht
> vordergründig semantische Funktionen hat, sondern die Voraussetzungen
> für sinnhaltige Prozesse schafft, für Anschlußfähigkeiten und
> Zirkulationen.
Die Frage ist, ob diese Definition nicht für fast alle Software gilt. (Z.B.
für Funktionsbibliotheken, Java-VMs, aber auch für Webbrowser und
Textverabeitungsprogramme. Selbst wenn man "sinnhaltige Prozesse"
formalistischer definiert als Turing-vollständige Programmiersprachen,
erfüllen die meisten gebräuchlichen Webbrowser (Javascript, Shockwave...)
und Textverarbeitungsprogramme (WordBasic, TeX...) diese Definition. Fast
jede Software ist auch eine 'Bibliothek' bzw. ein Abstraktionslayer für
Meta-Programme. Nehmen wir z.B. das einfache Beispiel eines
Tabellenkalkulationsprogramms unter Windows NT und Linux:
Excel-Makro Scheme-Makro
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Visual Basic für Excel GUILE/Scheme
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Excel Gnumeric
| |
MS Office-Shared Libraries Gnome Workship-Bibliotheken
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COM-Objektarchitektur Gnome-Bonobo auf CORBA
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Win32-Desktop-API (GUI-Toolkit) GTK-GUI-Toolkit
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NT-Macrokernel glibc
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NT-Microkernel Linux-Kernel
Wo hört das Betriebssystem auf und wo beginnt die Applikation?
Auch der Microsoft-Prozeß und sein Gegenstand, ob der Webbrowser Teil des
Betriebssystems ist oder nicht, hat diese Frage nicht klären können.
Die Unterscheidung von OS und Anwendungen mit der Unterscheidung von
"Kernelspace" und "Userspace" gleichzusetzen, hilft auch nicht, weil es
völlig arbiträr ist, welche Programmfunktionen in welche der beiden
Schichten integriert werden. (Zum Beispiel kann man unter Linux einen Webserver
wie gewöhnlich im Userspace laufen lassen oder, seit Kernel 2.3.x im
Kernelspace aktivieren. Gleiches gilt z.B. für Dateisysteme wie NFS oder
CFS. Der Quake-Entwickler John Cormack dachte vor wenigen Tagen darüber
nach, den Linux-TCP/IP-Stack experimentell in den Userspace zu verlegen, und
ein anderes Projekt versucht, sogar den gesamten Linux-Kernel im Userspace
nutzbar zu machen, um Kernel-Entwicklung ohne Reboots zu ermöglichen.)
> Darüber liegt die Schicht der Anwendungen, der sinnhaften Operationen.
> Die Aufteilung in zwei Schichten markiert eine Unterscheidung in
> "Regelhaftigkeit" und "Ausdruck". Hier Standard, Eindeutigkeit,
> Verbindlichkeit, dort Vielfalt, Heterogenität und Gewusel. OS = ein
Die Unterscheidung greift meiner Meinung nach zu kurz, weil Einheitlichkeit
_und_ Heterogenität sowohl das "Betriebssystem" (im Vergleich zu anderen
Betriebssystemen), als auch die "Anwendungen" (im Vergleich zu anderen
Anwendungen) charakterisieren.
> Z.B. Sprache: die strukturale Linguistik hat nach dem OS der Sprache
> gesucht.
Meinst Du die Strukturalisten oder Chomsky? Wenn Du vom OS _der_ Sprache
schlechthin sprichst, stimmt die These (meiner Meinung nach) nur für Chomsky
und die generative Transformationsgrammatik.
> Eine Beobachtungsschicht höher ist die Schrift das OS der
> Gesellschaft. Standardisierung ist Voraussetzung für Austausch und
> Vergleichbarkeit (Maße, Gewichte, Münzen, Token), für Buchhaltung und
> Verwaltung (Steuern, Volkszählung), Telekommunikation, Speicherung in
> Akten, Entpersönlichung der Interaktion: Gesetze (kodifiziertes
> Recht), heilige Schriften (Weltregligionen verschalten unzählige
> Individuen auf der ganzen Welt zu einer Einheit).
Die Frage ist, ob sich angesichts des Modell der endlos schachtelbaren
Abstraktionslayer nicht nur der Dualismus von OS und Anwendungen
dekonstruiert, sondern auch die o.g. Thesen von den Betriebssystemen der
Gesellschaft.
> Computer als "OS" der "Informationsgesellschaft". "Essentiell" für das
Ketzerische Frage: Ist "OS" in diesem metaphorischen Sprachgebrauch nicht
ein etwas umständliches Ersatzwort für "Grundlage"?
> heute haben (Tim O'Reilly sprach von der Gefahr proprietärer
> Informationsschichten im Internet).
Ja, stimmt - sein Vortrag hat die o.g. Frage, welche Schicht eigentlich das
'Betriebssystem' ist, schon längst formuliert und politisch zugespitzt.
> * Stefan Meretz, Duesseldorf, oekonux,
> http://www.kritische-informatik.de
> <stefan.meretz@kritische-informatik.de>
>
> - "Gabentausch/Gift Economy": die Idee, die sich ebenso hartnäckig wie
> oberflächlich (s. Raymond) hält, mal ernsthaft beleuchten. * Maurice
> Godelier: Das Rätsel der Gabe. Geld, Geschenke, heilige Objekte * Jean
> Starobinski: Largesse (Rezensionen zu beiden in Zeit 22.12.99) -
> Reputation als Währung.
Klingt sehr vielversprechend!
> - "Offenes" Geld:
> * David Chaums Ecash: was ist draus geworden? Welche anderen Ansätze
> gibt es?
War es padeluun, der auf dem CCC-Kongreß darauf hingewiesen hat, daß alle
existierenden elektronischen Zahlungssysteme extreme vertikale Hierarchien
zwischen Produzenten und Konsumenten kreieren, weil man z.B. einem Nachbarn,
dem man ein gebrauchtes Fahrrad abkauft, nicht per Kredit-, Geldkarte oder
Cybercash bezahlen kann, weil nur Firmen das Privileg eines Kartenlesers
besitzen?
So offensichtlich und trivial diese Einsicht auch ist, ich war bisher nicht
darauf gekommen, und sie läßt mich seitdem nicht mehr los (und auch viele
meiner Freunde und Kollegen nicht, denen ich sie weitererzählt habe).
> * Rainer Kuhlen, "Doubling Core", Metadatenformat für
> wissenschaftliche Arbeiten im Netz
"Dublin Core". (Der ist aber wirklich ein alter Hut - ein paar Metadaten im
HTML-Header, die Autor, Titel, Jahr, Copyright etc. einer HTML-Seite
benennen. Wer's ansehen will, kann meine Website ausprobieren
<http://userpage.fu-berlin.de/~cantsin/index.cgi>. Wissenschaftlich
zitierfähig werden Web-Publikationen durch den "Dublin Core" leider noch
lange nicht.)
> FREIE KUNST
> * Hugo Kaagman, Amsterdam??
> "Streaming Media as an Artist Tool" Delay Action
> A performance for Streaming Media by Artist Hugo Kaagman
> English & audio visuals
>
> * Rene Coelho, Amsterdam
> "From 1960s Activism to Main Stream Television and from there
> to Media Art"
> Profile - interview with Rene Coelho Founder / Former Director of
> MonteVideo Time Based Arts. (the Dutch Media Institute for the Arts)
Gegen-/ Ergänzungsvorschlag: Eine Sektion zu "Anticopyright in der Kunst".
Mögliche Referenten:
- Matthew Fuller und Graham Harwood. (Wenige Leute aus dem Netzkunst-Umfeld
werden wissen, daß die beiden ursprünglich aus dem weiteren Umfeld des
Neoismus kommen und in den späten 80er Jahren beteiligt waren an den
"Festivals of Plagiarism" in London 1988 und Glasgow 1989 - wo ich Matthe
Fuller kennengelernt habe - und Anticopyright-Publikationen wie SMILE,
Leisure und Underground.) Meines Wissens hat Matthew in den späten 80ern in
Cardiff/Wales sogar einen Vertrieb namens "Anticopyright" betrieben.
- Plunderphonics. Im Gegensatz zur Mikro-Lounge zu diesem Thema
sollten Musiker/Komponisten eingeladen werden, die dieses Konzept wirklich
geprägt haben. Interessantester Kandidat: LLoyd Dunn aus Iowa City, Gründer
der Tapebeatles/Public Works und langjähriger Herausgeber der Zeitschriften
"PhotoStatic/Retrofuturism", "YAWN" und "Copyright Violation Squad
Bulletin", die von ca. 1987-1993 die Theorie-Zentralorgane der
Anticopyright- bzw. 'Plagiarism'-Bewegung waren. ("YAWN"-Archiv:
<http://www.neoism.org/squares/y__yawn.html>,
"PhotoStatic"/TapeBeatles-Website: <http://www.detritus.net/ASCW> und
<http://soli.inav.net/~psrf>). Als Komponist und Erfinder des
"Plunderphonics"-Konzept auch interessant: John Oswald. Falls das Geld für
Übersee-Einflüge fehlt, könnte auch das Tape Beatles-/Public Works-Mitglied
John Heck aus Prag eingeladen werden.
- www.0100101110101101.ORG. Das Projekt stellt gerade auch der
Netzkunst-Gemeinde gute (unbequeme) Fragen, und meine Freunde aus Bologna
haben, finde ich, eine hervorragende Offline-Vorstellung bei der
Netzkunst-Mikrolounge gegeben. Über Luther Blissett und Neoismus gibt es
natürlich direkte Verbindungen zu den Obengenannten.
- Karlheinz Essl. Einer der interessantesten (und auch theoretisch
luzidesten) jüngeren Komponisten Neuer Musik, der seit 1994 oder 95
praktisch sein gesamtes Oeuvre im Internet verfügbar macht
<http://www.essl.at>. Seine 'Real Time Composition Library' und
algorithmischen, vom Hörer steuerbaren Kompositionen sind als
Macintosh-Software frei aus dem Netz ladbar, ebenso Essays, Real
Audio-Aufnahmen etc.pp.
- Heiko Idensen. Die "Imaginäre Bibliothek" seiner "PoolProcessing"-Projekts
ist aus meiner Sicht das früheste Projekt einer (a) elektronischen
Netzliteratur, die sich (b) auf eine Non-Copyright-Intertextualität beruft
und diese auch theoretisch reflektiert. Davon abgesehen, halte ich die
"Imaginäre Bibliothek" selbst nach mehr als zehn Jahren für bessere
Literatur als fast alle spätere und gegenwärtige deutschsprachige
Netzdichtung.
>
> * Hans Reiser, Reiserfs: Technolgy for Increasing The Chaotic Freedom
> Level of the OS [ccc99] <reiser@idiom.com> - Efficiency Of Subsystem
> Interaction Can Determine Number Of Interactions: In Some Systems That
> Determines System Utility - Defining Items, Keys, Trees, Balancing,
> And Layout Layering - Reiserfs: A Few First Baby Steps Towards
> Enabling Fragmentation Reduction. http://devlinux.org/namesys/
> philosophischer Ansatz: Adam Smith: Handelswege vom Staat garantiert
> Integration versch. Namespaces
- Paul Garin? ICANN - Multicasting -
Ich glaube, Garins "Namespace"-Projekt weckt eine bloß nominelle Assoziation
an Reisers (hochinteressantes) Projekt der Reduktion von Namespaces.
> Downloads skalieren, CVS-Server auch. Support nicht. Nach dem was
> Jeanette Hofmann über die Entwicklungen in der IETF berichtet hat,
> auch nicht die offenen Entscheidungsfindungsprozesse. Community
> doesn't scale.
Okay - wir müssen beim nächsten Mal aber klar differenzieren, daß Freie
Software Entscheidungskonflikte ganz anders lösen kann als
Standardisierungsgremien. (Eine der vielen Unzulänglichkeiten des Terminus
"Open Source" ist, daß er den Unterschied zu "Open Standards" verunklart.)
Ein Freies Software-Projekt kann sich jederzeit spalten, bzw. sein Code von
Dritten angeignet und autonom weiterentwickelt werden, wenn es an seiner
Entscheidungsbürokratie erstickt (siehe egcs vs. gcc, XEmacs vs. GNU Emacs,
OpenBSD vs. NetBSD, siehe den Vortrag zu 'The Gimp' und seiner
Entwicklungsgeschichte auf den WOS #1). Freie Software ist gegenüber der
IETF in der glücklichen Lage, _keine_ verbindlichen Standards definieren zu
müssen.
Gruß,
Florian
--
Florian Cramer, PGP public key ID 6440BA05
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