[rohrpost] Basieux: Mathe ist in!

Peter C. Krell Peter C. Krell" <designs@suct.com
Fri, 12 Jan 2001 18:21:42 +0100


"Die Architketur der Mathematik"
offene Fragen als Motor kontinuierlicher Entwicklung

Pierre Basieux, der Verfasser diverser Schriften zum Thema Mathematik
und Spieletheorie, hat im November 2000 einen neuen Titel in deutscher
Sprache ver=F6ffentlicht. Erschienen ist das Buch dieses hauptberuflichen
Unternehmensberaters im Rowohlt-Taschenbuch-Verlag. Es bibliografiert
unter dem bezeichnenden Titel "Die Architektur der Mathematik - Denken
in Strukturen".=20
Basieux geht es nach eigen Angaben in seinem Buch darum, mittels einer
strukturellen Betrachtung der Mathematik ein prinzipielles Verst=E4ndnis
derselben seinen Lesern zu vermitteln.=20
Vor allem aber geht es darum, zu begreifen, da=DF sich in der Mathematik
Strukturen vorfinden, die sich st=E4ndig in Bewegung befinden. Daher l=E4=
=DFt
sich die These von einer Architektur der Mathematik nur vor dem
Hintergrund der neueren biomorphsitischen Str=F6mungen unter Prof. Colin
Fournier et al. halten. Gem=E4=DF dieser in verschiedenen Zeitfenstern
vonstattengehenden Iso- und Automorphistik der Mathematik scheint die
Welt der Ideen seit Platon vor dem Hintergrund mehrerer
medientechnischer Revolutionen fortlaufend angewachsen zu sein. Zwar
bescheinigt Basieux in diesem Zusammenhang dem Platonismus als solchen,
in seiner allgemeinen Hochsch=E4tzung der reinen Ideen vor ihren sur- und
injektiven Abbildungen im Symbolischen des Realen, das Zeugnis
intellektueller Schizophrenie, aber selbst wenn einem eine solche
negative Beurteilung Platons Philosophie nicht zu sagt, ergeben sich
daraus sehr viele Fragen, im Bezug auf das, was die Mathematik auch in
Abgrenzung zur klassichen Ontologie denn nun letzten Endes sei.=20
Basieux kennzeichnet die Mathematik als ein "kreatives
Science-Fiction-Spiel", das allein darin bestehe, "aus dem axiomatischen
Fundament immer weitere Theoreme abzuleiten, die wiederum als
Ausgangspunkte f=FCr weitere Herleitungen benutzt werden k=F6nnen." (S.17=
0)=20
Denn obwohl die Mathematik nach neuerer Z=E4hlung in =FCber dreitausend
unterschiedlich spezialisierte Einzeldisziplinen (Davis/Hersh, 1994)
zerf=E4llt, k=F6nnen heutzutage dennoch drei axiomatische Haupts=E4ulen a=
ls
Tr=E4ger des mathematischen Denkens identifiziert werden. Bei diesen
Strukturen handelt es sich um: die Ordnungsstruktur, die algebraische
Struktur und die topologische Struktur, die alle zusammen in einer Art
mathematischer Drei-Einigkeit als Basis f=FCr weitere , aus Axiomen
zusammengesetzte, hybride Mischstrukturen dienen, welche ihrerseits
unter der Einf=FChrung von weiteren Axiomen spezielle Strukturen
mathematischer Modelle und Fallbeispiele ausbilden.=20
Basieux` Weg zur dieser Erkenntnis f=FChrt =FCber orbitale Betrachtungen =
zur
Struktur der Mathematik. Sie nehmen ihren Ausgangspunkt im Aufgreifen
eines einfachen Mengenbegriff der Dinge als Elemente ihrer jeweiligen
Klassifikationskategorien in ihren jeweiligen relationalen
Wechselwirkungen innerhalb mehrerer systemischer Zusammenh=E4nge.
Ausgehend vom Objekt also, geht Basieux =FCber zu einer Betrachtung von
einfachen und komplexeren Beziehungsprinzipien und von da aus hin zur
Skizzierung von multiplen kombinatorischen Strukturen, wie zum Besipiel
R=E4umen, in denen solche Beziehungen stattfinden.=20
Dennoch handelt es sich bei diesen Buch nicht um eine strikte
mathematische Abhandlung. Ganz im Gegenteil. Die mathematischen Formeln,
wie man sie aus heutigen wissenschaftlichen Abhandlungen gewohnt ist,
blieben weitgehend ausgeklammert. Das erkl=E4rt sich auch aus dem von
Basieux formulierten Motiv von der Transparent-Machung der Mathematik
als solcher:  "Die Begriffe sollen vor dem strukturellen Hintergrund
durchsichtig werden, und hervortreten soll der reine Denkvorgang." (S.
169) =20
Denn genauso wie Cantors Mengenlehre bezeichnen Geometrie und Alegbra
immer ein Gemachtes, das sich in Symbolen von Menschen durch Menschen
mit Hilfe von Appartaten anschreiben und vermitteln l=E4=DFt. All dies
scheint nach den genau vorgegebenen axiomatischen Grundregeln der Logik
wundersam zu funktionieren und wird vor dem Hintergrund menschlicher
Irrationalit=E4t dennoch immer nur als ein Akt der reinen Willk=FCr erleb=
t.
Auch Basieux` selbstverschuldeter Versuch, einen =DCberblick =FCber die
Ordung der multi-relationalen Ordnungsstrukturen und den dadurch
gekennzeichneten strukturellen Aufbau der Mathematik an sich geben zu
wollen, ereignet sich vor den Leseraugen unter dem Verdacht der
Willk=FCrlichkeit. In Anlehnung an den Bourbaki=B4schen Versuch einer
Beschreibung des Aufbaus der Mathematik in multiplen Mischstrukturen
f=FChrt dies bis hin zum Kolmogoroff`schen Konzept eines
Wahrscheinlichkeitsraum und damit besonders dort zur Verwirrung, wo mehr
=DCbersichtlichkeit das eigentliche Ziel der Untersuchung war.=20
Zu vermuten ist, das dies besonders deshalb so ist, da einem im Bereich
der irrationalen und komplexen Zahlen in n-dimensionalen R=E4umen die
euklidische Anschaulichkeit ohnehin verlorengeht und Metaphern des
=DCberblicks (oder der =DCbersichtlichkeit) unter solchen Vorzeichen nich=
ts
weiter zu bedeuten scheinen, als ein kollektives Delirium ubiquit=E4ren
Ausma=DFes (wohlgemerkt rein nach logischen Regeln).=20
"Die Ordnung einer Untergruppe teilt die Ordnung der Gruppe." (S.94) Von
diesem Satz hei=DFt es bei Basieux, jenem Verfasser des Buches "Die Top
Ten der sch=F6nsten mathematischen S=E4tze", es handele sich bei ihm um
einen der sch=F6nsten mathematischen S=E4tze =FCberhaupt. Die Gruppenelem=
ente
erf=FCllen also sch=F6nerweise die Overall-Gruppenpostulate, ganz im Sinn=
e
einer jeden Volksgemeinschaft.
Wenn die Mathematik also sch=F6ne und nicht so sch=F6ne S=E4tze hervorgeb=
racht
hat, dann kann ein  Individuum, das das Wertesystem seiner Sprache neben
einem lokalisierbaren Wirkungsraum dieser Sprache mit anderen Individuen
teilt, nachdem sie in Theoremen und Aixomen von Mathematikern
vorformuliert und von Individuen verstanden worden sind, aus einer
unglaublich bunten Vielfalt sch=F6pfen und so seinem allt=E4glichen
Ausdrucksvolumen abstrakte Tiefe verleihen. Und wenn die Mathematik
heutzutage die universale Metasprache in der wissenschaftlichen Welt
darstellt, hat sich damit auch ihr Wirkungsraum globalisert, was zur
Folge hat, da=DF die Mathematik neben Englisch zur aktuellen Lingua Franc=
a
der heute ma=DFgebenden Naturwissenschaften geworden ist. Daher w=E4re es
wahrscheinlich um so sch=F6ner, wenn sich das universale Diktum der
Mathematik in allen Wesensz=FCgen des morphologischen Seins nachweisen
lie=DFe, denn dann und auch nur dann w=E4re die endg=FCltige Vaterschaft =
der
Mathematik am Universum f=FCr alle Zeiten bewiesen und man m=FCsste nur n=
och
eine Sprache lernen, die der Mathematik n=E4mlich, und nichts anderes.
(Anderenfalls k=F6nnte die Mathematik auch als Effekt des Gehirns gelesen
und verstanden werden.)
Basieux geht es aber weniger darum machtpolitische Fragen einer global
operierenden geistigen Elite zu kl=E4ren, als viel mehr neue zu stellen
und darin =E4hnlich wie Cantor den eigentlichen Motor der Mathematik und
des Lebens =FCberhaupt zu erkennen.
Daher wei=DF die LeserIn am Ende ihrer Lekt=FCre auch nicht mit hundert
prozentiger Sicherheit zu sagen, ob der gro=DFe franz=F6sische Mathematik=
er
Henri Poincar=E9 beispielsweise als Zeitgenosse Felix Kleins mit seiner
eigenen sich von der Riemann=B4schen "Geometrie der Mannigfaltigkeiten"
abgrenzenden Theorie der systematischen Algebraisierung der
verschiedenen anerkannten Geometrien (euklidische und nicht euklidische
Geometrie [Gau=DF, Riemann, Lobatschewskij und Bolyai], M=F6bius=B4sche
Geometrie in der Ebene, konforme Geometrie, projektive und affine
Geometrie und Diffentialgeometrie) gem=E4=DF einer h=F6heren Ordnungsstru=
ktur
der Topologie n=E4mlich in letzter Instanz auch mit Kleins lakonischem
Satz =FCbereingestimmt h=E4tte: "Geometrie ist Gruppentheorie" (S.136) .
Genauso wenig wei=DF man auch, ob sich dieser Satz generell auf die
Mathematik heutzutage verallgemeinern lie=DFe. Ob n=E4mlich Mathematik ei=
n
soziologisches Ph=E4nomen geworden ist oder nicht.=20
Denn unumstrittener als das Christentum hat die Mathematik als
Glaubenssystem ihren weltweiten Siegeszug bereits ante Christi natum
angetreten und ist gerade im Begriff den alten Geisteswissenschaften mit
der Einf=FChrung dieses soziologischen Stranges der Mathematik und dem
globalen Geldmarkt den Gar auszumachen. (Luhmann l=E4=DFt gr=FC=DFen.)
Aber darum geht es Bausiex auch gar nicht. Er will vielmehr zeigen, da=DF
sich irgendwann Menschen vor dem Hintergrund der globalen
Computerisierung "=FCber mathematische Objekte und Fragen unterhalten
k=F6nnen wie =FCber Politk und soziale Themen- ohne Formeln, nur durch de=
n
verbalen Austausch von Ideen sowie die Kraft ihrer Argumente." (S.9)
Genau dies ist der grundlegende Anspruch Basieux.=20
Ob sich aber schon heute =FCber die Mathematik so unterhaltsam schreiben
l=E4=DFt, wie Basieux es sich vorstellt, thematisiert sich gewisserma=DFe=
n als
ein Nebeneffekt der strukturellen Betrachtungen zur Mathematik in
zahlreichen Annekdoten und Zitaten aus der popol=E4ren Kunst- und
Wissenschaftsgeschichte, was nichtzuletzt bereichert um die vielen
sch=F6nen Grafiken, tiefe Einblicke in die Historizit=E4t unseres heutige=
n
menschlichen Denkens gew=E4hrt. Ob die Augen beim Lesen der letzten Zeile=
n
dieses Buches dann auch leuchten ist eine Frage, die ein Leser nach dem
Lesen von Basieux Buch jedenfalls nicht automatisch mathematisch
berechnen kann.

Peter Krell

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