[rohrpost] FYI: Sieben Thesen zur Lage

Florian Cramer cantsin@zedat.fu-berlin.de
Fri, 14 Sep 2001 14:59:29 +0200


Am Thu, 13.Sep.2001 um 23:50:11 +0200 schrieb Axel Diederich:
 
> >From: "archivbremen" <archivbremen@niatu.net>
> >
> >Hi,
> >
> >ich leite das mal weiter, da es die erste vernünftigere Einschätzung ist, 
> >die mir auf den Bildschirm gekommen ist.

Worüber man allerdings geteilter Meinung sein kann.

> >----- Original Message -----
> >From: <mailto:Yetipress@aol.com>Yetipress@aol.com
> >To: <mailto:newsgroup@niatu.net>newsgroup@niatu.net
> >Sent: Thursday, September 13, 2001 3:03 PM
> >Subject: Sieben Thesen zur Lage

[...]

> >Sieben Thesen zur Lage
> >
> >1. Das ist kein Krieg. - Auch wenn die Dimension der Terroranschläge
> >schockierend ist: Das ist kein Krieg. Bis jetzt noch nicht. Kriege
> >sind bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Staaten oder
> >Bürgerkriegsparteien in einem Land; Krieg erfordert

Ja, aber nur in einem Politikverständnis des 19. und frühen 20.
Jahrhunderts, das sich nur Nationalstaaten oder inner-nationale
Konfliktparteien als politisch und militärisch handelnde Organisationen
vorstellen kann. Diese Sichtweise ist heute, wie sich gezeigt hat,
überholt.

> >Gründen forciert werden. Es sei daran erinnert, dass z.B. die "Ziele"
> >im Sudan, die 1998 von den USA bombardiert wurden, sich nachträglich
> >als "Irrtum" herausstellten. Terror wird durch Gegenterror nicht
> >bekämpft, und er rechtfertigt ihn nicht.

Richtig. Allerdings unterstellen diese und ähnliche Reaktionen, daß
_jede_ militärische Reaktion illegitim wäre und a priori feststeht, daß
sie die Falschen trifft. Wenn es auch dafür zweifellos viele Beispiele
gibt und Bushs Ankündigung vom Großkampf des Guten gegen das Böse nichts
Gutes erwarten läßt, bleibt festzuhalten: Die Organisatoren des
WTC-Anschlags müssen gefunden und, falls sie über eine militärische
Infrastruktur und politische Rückendeckung verfügen, wohl oder übel auch
militärisch bekämpft werden. Mit einem bequemen Pazifismus, der jede
Gegenhandlung mit realistischer Erfolgschance für unmöglich erklärt,
macht man es sich zu leicht. 

> >das Böse abgefeiert wird. Die Geschwindigkeit, mit der angebliche
> >"Erkenntnisse" produziert werden, ist mehr als fragwürdig. Die
> >Leichtfertigkeit, mit der das Risiko eines tatsächlichen Krieges in
> >Kauf genommen wird, ist ebenso schockierend wie das Desinteresse an
> >den Menschen, deren Leben direkt und indirekt gefährdet wird.

Völlig d'accord. - Allerdings: Wenn sich, wie z.B. bei dem Berliner
LaBelle-Anschlag von 1986 (den ich damals als Zeitungsbote in den
Morgenstunden aus nächster Nähe miterlebt hat), zweifelsfrei feststellen
läßt, daß das Attentat politisch-militärisch gesteuert wurde, muß den
politischen Hinterleuten das Handwerk gelegt werden. 

> >3. Das ist kein Anschlag gegen die Freiheit, nicht einmal gegen den
> >Kapitalismus, und es läßt sich auch keiner draus machen. - Mit den
> >verheerenden Anschlägen ist weder die "freie Welt", sprich der
> >Westen, noch die "zivilisierte Welt", sprich die Industriestaaten,
> >auch nicht die "Demokratie", sprich der Kapitalismus angegriffen
> >worden. Abgesehen

Was denn sonst? Wer auch immer hinter diesem Angriff steht - ob
durchgeknallte Islamisten, Rechtsradikale,
christlich-fundamentalistische Sektierer, Albaner oder durchgeknallte
ex-Milovesic-Milizen -, war ein Feind der Freiheit, der Demokratie, des
Internationalismus und des toleranten und zivilen Umgangs miteinander
(wie kulturell verschieden man diese Begriffe und Werte auch definieren
kann) und wollte genau das auch zum Ausdruck bringen. 

Im übrigen ist jede Rhetorik, die gegenüber den Attentätern kulturell
und politisch Verständnis aufzubringen versucht, perfide und letztlich
selbst rassistisch, weil sie Angehörigen anderer Kulturen nicht dieselbe
Besonnenheit, Toleranz und Intelligenz zugesteht, die man auch von
seinen unmittelbaren Mitbürgern erwartet.

> >davon, dass man bis jetzt nicht weiß, wer die Anschläge mit welchem
> >Ziel durchgeführt hat, richten sie sich gegen Symbole der USA als
> >weltweiter Interventionsmacht, ökonomisch und militärisch. Das ist
> >eine relativ

Möchte der Autor dieser Zeilen die Toten als "Kollateralschaden"
verbuchen? 

> >spezielle Botschaft. Die Rede vom "Angriff auf die Freiheit" bäckt
> >dieses spezifische Gewaltpotenzial mit allem und allen in der
> >Gesellschaft zusammen und verdeckt gezielt, dass eben diese
> >Interventionsmacht und -praxis seit langem bewusst und kalkuliert
> >Risiken auch für die eigene Bevölkerung anzieht - vor allem indem sie
> >anderswo Gewalt ausübt und Armut schafft, aber auch indem sie
> >bedenkenlos Gruppen militärisch aufrüstet, über die sie dann die
> >Kontrolle verliert.

Einverstanden, zumal wenn sich der Verdacht gegen bin Ladin erhärten
sollte. Allerdings: Es scheint mir naiv zu glauben, die USA oder jede
andere Gesellschaft dieser Welt wäre dieser Risiken nicht ausgesetzt,
wenn sie sich aus der internationalen Politik bewußt heraushalten würde.
(Man denke an das Münchener Olympia-Attentat.) Die Botschaft kann nicht
sein, daß sich die USA aus der internationalen Politik zurückziehen soll
- was gerade auch viele Konservative und Isolationisten in Amerika
wollen. Im Gegenteil, die Erfahrungen eines beispiellos
multikulturellen (und auch vielseitigen, widersprüchlichen) Lands sind
unverzichtbar, wenn es z.B. um die Lösung des Nordirland-Konflikts
geht; und auch der Nahost-Konflikt wird ohne eine internationale
Zusammenarbeit, die die USA prominent miteinschließt, nie zu lösen
sein.  Neben den bekannten Negativbeispielen werden die letztlich
positiven, z.B. die Intervention in Ruanda, die Clinton auf Druck der
schwarzen Bevölkerung der USA betrieb, unter den Tisch gekehrt.

> >4. Das ist kein Anschlag für die Freiheit, nicht einmal gegen den
> >Kapitalismus, und es läßt sich auch keiner draus machen. - Man muss
> >keine Sympathie für das Pentagon oder für das internationale
> >Finanzkapital hegen, um festzustellen, dass die Anschläge eine
> >faschistische Handschrift tragen. Ähnlich wie bei den Anschlägen in
> >Bologna, Oklahoma und anderen sollten mit maximaler Gewalt möglichst
> >viele Menschen getötet werden, Chaos und Krieg sind die kalkulierten,
> >erhofften Folgen dabei. Der Tod von Zivilisten, die unmittelbare
> >Lebensgefahr die für Palästinenser, für Israelis, für die Bevölkerung
> >arabischer Staaten und viele andere hervorgerufen wird, sind den
> >Tätern vollständig gleichgültig. Egal ob die Verantwortlichen
> >arabische Fundamentalisten, amerikanische Rechtsextreme, eine
> >Verbindung mehrerer Gruppen oder ganz Andere waren: hier läßt sich
> >kein antikapitalistischer Kontext konstruieren, hier rechnet ein
> >reaktionäres, organisiertes Machtpotential mit einem Gegner ab, der
> >der eigenen Macht im Weg steht; hier wird geschlachtet, weil man sich
> >von den Folgen eine Eskalation verspricht, von der das eigene
> >Machtgebilde auf Kosten zahlloser Anderer profitieren soll.

Völlig einverstanden, und daraus folgt, daß die dritte These (s.o.) nicht
stimmt.

> >im Protest gegen die Politik der G8. Wer findet, am wichtigsten sei,
> >dass die Bundeswehr jetzt auch möglichst schnell ihre globale
> >Interventionsfähigkeit weiter vorantreibt, ist nicht nur zynisch, er
> >riskiert bereitwillig unser aller Leben um der Interessen von Eliten
> >und "Systemzwängen" willen.

Zu glauben, man könne eine Politik der internationalen Diplomatie und
des Interessenausgleichs betreiben, ohne auch militärische Druckmittel
zu haben, scheint mir ein arg idealistisches Wunschdenken. (Siehe
Mazedonien.) Auch eine U.N. gibt es nicht ohne Friedenstruppen.

Ein ernsthaftes Problem scheint mir zu sein, daß dieser "Krieg" sich
rasch nach innen und auf die Sphäre der Informationsnetze verlagern
wird.  Zumal bin Ladins Organisation, die - wie schon vor Monaten
berichtet wurde - massiv mit PGP und Steganographie (u.a.,
ironischerweise, durch als Porno-Sites getarnte Server) arbeitet,
jetzt sämtliche Vorwände dafür liefert, starke Kryptographie zu
verbieten, Rechner mit ID-Signatur-Chips und darauf abgestimmten
Bootloadern zu versehen (siehe die aktuelle Gesetzesinitiative im
amerikanischen Kongreß). Alle, die sich für Informationsfreiheit und
ein offenes Internet engagieren, erwartet jetzt eine sehr harte Zeit. 

Wenn nach Ansicht aller Amerikaner die USA seit dieser Woche nicht mehr
dasselbe Land sein werden wie vorher, kann das leider auch zur Folge
haben, daß bald das Internet - und zwar in technischer Hinsicht - nicht
mehr dasselbe sein wird wie heute.

> >hat. Es geht um das Eingeständnis der Tatsache, dass der Westen jeder
> >emanzipatorischen oder sozialen Alternative innerhalb des Islam oder
> >innerhalb der arabischen Gesellschaften mit kompromißloser Härte
> >entgegengetreten ist, einfach wegen des Öls. Und es geht darum, mit

Wenn mit den "emanzipatorischen oder sozialen Alternative[n]" der
Islamismus gemeint sein soll, steht dieser Satz genau für jenen
repressiv-toleranten Rassismus, von dem ich oben sprach. Man stelle sich
einmal das Umgekehrte, in kleineren Dimensionen, vor: Auf den Reisebus
moslemisch-arabischer Touristen wird in Deutschland von Neonazis eine
Brandbombe geworfen, alle Insassen sterben, in den arabischen Ländern
schwanken die öffentlichen Reaktionen von gemäßigten Aufrufen, die Täter
zu finden und zu verurteilen bis zu fanatischen Aufrufen zum heiligen
Krieg. Aber dann gibt es noch eine Gruppe besonders Toleranter und
politisch Korrekter, die kulturelles Verständnis für die Neonazis
aufbringt, sie mit Deutschland insgesamt (positiv) identifiziert, und
z.B. die Teilung Deutschlands oder gar die Entschädigungszahlungen für
NS-Zwangsarbeiter als kollektive Traumata und zwar nicht legitime, aber
psychologisch und kulturell verständliche Motive identifiziert; nach dem
Motto, mit der weltweit einhelligen Verdammung des Nazitums hätte man
auch mit ihm  vielleicht zusammenhängende "emanzipatorische und soziale"
Alternativen unterdrückt...

Übrigens haben in den 1940er Jahren und sogar nach dem Holocaust viele
Intellektuelle außerhalb Deutschlands so oder ähnlich argumentiert.
Wer's nicht glaubt, nehme als Beispiel Jorge Luis Borges' Erzählung
"Deutsches Requiem" (eine sagenhafte Entgleisung dieses fantastischen 
Schriftstellers).


Florian


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