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Tilman Baumgaertel tilman_baumgaertel@csi.com
Thu, 20 Jun 2002 14:50:27 +0200


az 20.6.2002 Das Sterben der Mailboxen=20

Das Sterben der Mailboxen

Das letzte Netzwerk der Friedensaktivisten im ehemaligen Jugoslawien steht
vor dem finanziellen Ende: Die EU und die internationalen
Hilfsorganisationen wollen nicht mehr daf=FCr bezahlen

von ROLAND HOFWILER

Was waren das f=FCr Zeiten! Der Krieg um das ehemalige Jugoslawien tobte auc=
h
im Internet. Hacker und Politiker f=FChrten im Netz eine Propagandaschlacht
nach der anderen. Und manch dubiose Gruppe brachte sich in die
Schlagzeilen, wie etwa die "Schwarze Hand". 1914 ging auf das Konto dieses
serbischen Geheimbundes die Ermordung des =F6sterreichischen Thronfolgers
Franz Ferdinand, 1998 gaben sich Computer-Hacker diesen Namen, die mit
unsichtbarer Hand in die Nato- Werbeabteilung eindrangen, in eine
US-Regierungsseite und ein Forschungsprojekt der amerikanischen Marine.
Andere Hacker kn=FCpften sich danach die Serben vor, andere wiederum die
Albaner.

Das ist lange her. Es herrscht Frieden auf dem Balkan, und auf den
Webseiten der Kommerz. Alles was einst politisch war, ist nahezu
verschwunden. Die legend=E4ren Internet-Zirkel wie "Za-Mir"
(www.peacenet.org/balkans) oder die der niederl=E4ndischen
Experimentiergruppe "xs4all", die ungez=E4hlten kleinen Friedensgr=FCppchen =
aus
Serbien, Bosnien, Kroatien und Albanien die Webseiten aufbereiteten
(domovina.xs4all.nl/bcs/), haben sich aus den gro=DFen Datenbahnen des
Internets verabschiedet. Die albanischen Sammelhomepages (www.albanian.com
und www. kosovapress.com) und das serbische Multimediaprojekt B-92
(www.b92.net) sind l=E4ngst ohne Biss. Und das letzte noch intakte Netzwerk,
die Alternativna Informativna Mreza, kurz AIM, (www.aimpress.org) steht nun
vor dem Aus. Die Europ=E4ische Union und internationale Hilfsorganisationen
wollen kein Geld mehr in das Projekt stecken, das 1992 vom Europ=E4ischen
B=FCrgerforum, einem Ableger der in den 70er-Jahren in S=FCdfrankreich
gegr=FCndeten Landkommune Longo Mai, ins Leben gerufen wurde. Zum Jahresende
soll das in seiner Art einzigartige Balkan-Netzwerk abgedreht werden.

Letztes Netzwerk

Im Unterschied zu anderen Hilfsorganisationen im Medienbereich begn=FCgt sic=
h
AIM mit einem Minimum an Verwaltungsaufwand. Es existiert nicht einmal eine
flache Hierarchie, sondern gar keine. Sowohl die in Paris ans=E4ssige
Koordinatorin wie auch der Generalsekret=E4r beschr=E4nken sich auf
administrative Aufgaben.

Stand w=E4hrend des blutigen Krieges der Kampf gegen nationalistische Hetze
und Fanatismus im Vordergrund, ist es heute die mediale Verst=E4ndigung =FCb=
er
die neu gezogenen Grenzen auf dem Balkan hinweg. Da sich die meisten der
unabh=E4ngigen Medien in den Nachfolgestaaten des untergegangenen Jugoslawie=
n
kein eigenes Korrespondentennetz leisten k=F6nnen, brauchen sie ein
gemeinsames Informationsnetzwerk. Diese Aufgabe =FCbernimmt AIM, das
unentgeltlich Berichte und Analysen an eine Vielzahl von Zeitungen auf dem
ganzen Balkan weiterleitet, aber auch gleichzeitig alles f=FCr jedermann im
Internet frei zug=E4nglich h=E4lt. Zum Erstaunen der AIM- Betreiber =FCberni=
mmt
selbst manch Regierungsblatt und manch nationalistische Postille mehrmals
w=F6chentlich Artikel aus dem reichhaltigen Angebot der ehemaligen Aktiviste=
n
der Antikriegsbewegung.

Tag f=FCr Tag produzieren die Redaktionsstuben in Banja Luka, Belgrad,
Ljubljana, Podgorica, Prishtina, Sarajevo, Skopje, Sofia, Tirana und Zagreb
Texte, die sich sehen lassen k=F6nnen, aber auch ihren Preis kosten: Das
Konzept verschlingt an die 800.000 Euro im Jahr, eben zu viel Geld aus
Sicht der Br=FCsseler B=FCrokraten. Sieben Jahre nach Ende des Bosnienkriege=
s
und drei Jahre nach Befriedung des Kosovo ist ein massiver R=FCckgang
internationaler Hilfsgelder f=FCr alle gesellschaftlichen Bereiche zu
beobachten. Von Suppenk=FCchen f=FCr Arme =FCber=
 Arbeitsbeschaffungsma=DFnahmen f=FCr
Jugendliche und schulischen Projekten bis hin zu Internetcaf=E9s: einer
Initiative nach der anderen wird der Geldhahn zugedreht.

Veteranentreffen

Die politische Funktion des Internets f=FCr die Balkanregion geh=F6rt so der
Vergangenheit an. Nur noch auf inaktuellen Websites kann der Interessierte
nachlesen, wie es einst zur Gegen=F6ffentlichkeit kam, aktuelle Diskussionen
fehlen: Mit Ausbruch der ersten nationalistischen Provokationen bildeten
sich =FCberall im Vielv=F6lkerstaat kleine "F=FCr-Frieden"-Kreise (auf
s=FCdslawisch "za mir"), die =FCber E-Mail und Newsgroups eine
Gegen=F6ffentlichkeit zu schaffen suchten. Telefone und Faxverbindungen ware=
n
im Laufe von Kampfhandlungen vielerorts zusammengebrochen. Mit teilweise
schwachen Rechnern und einfachen Mailprogrammen wurde das Netzwerk der
Mailboxen aufgebaut, manchmal nur mit minutenlangen Logins ausger=FCstet, in
Extremf=E4llen lief der Datenaustausch gar nur =FCber Funkamateurfrequenzen
unter 300 Bit-Raten pro Sekunde. Alles bewegte sich abseits des World Wide
Web, ohne FTP-Protokoll oder IRC-Chat. Zamir galt als Alternative zum Hass
der Radio- und Fernsehstationen, als Vermittler von Augenzeugenberichten
anstelle von Propagandatexten in den Printmedien.

Die Akteure von einst haben sich l=E4ngst zur=FCckgezogen oder gingen in die
westliche Immigration. Vor Ort gibt es so gut wie keine M=F6glichkeit, im
Computerbereich Arbeit zu finden. Von einst 5.000 Mailbox-Standorten, =FCber
die bis zu 2.000 Gruppen und Einzelpersonen miteinander verbunden waren,
existieren heute nur noch private Maillisten, =FCber die sich die Veteranen
=FCber die alten Zeiten unterhalten. Die Aktivisten der legend=E4ren
Bionic-Mailbox in Bielefeld haben sich l=E4ngst neuen Projekten verschrieben=
,
im Glauben, die Balkanesen w=FCrden ihre gewonnene Medienfreiheit selbst zu
verteidigen wissen.

hofwiler@taz.de

taz Nr. 6779 vom 20.6.2002, Seite 14, 184 TAZ-Bericht ROLAND HOFWILER

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