AW: [rohrpost] betrifft: deutsche medientheorie

Harald Hillgärtner hillgaertner at tfm.uni-frankfurt.de
Son Okt 17 23:34:36 CEST 2004


Hallo Florian

Am Samstag 16 Oktober 2004 21:46 schrieb Florian Cramer:
> Das ist genauso, als wenn man Literaturwissenschaftler ist und
> Analphabet, Fremdsprachenphilologe ohne Fremdsprachenkenntnisse oder
> ein Musikwissenschaftler, der weder ein Instrument spielen, noch Noten
> lesen kann. Schimpf mich konservativ, aber dies sind in
> geisteswissenschaftlichen Fächern sonst völlig selbstverständliche, oft
> schon von Studienanfängern verlangte Mindestkompetenzen.

Ein wenig schief sind die Vergleiche schon noch, da es sicherlich einen 
Unterschied macht, ob man von etwas überhaupt nichts versteht, weil man nicht 
lesen kann, oder ob man dilletiert, weil man etwas in seinen technischen 
Grundlagen nicht versteht. In ersterem Fall kann man noch nicht einmal 
dilletieren. Trotzdem sind die Vergleiche gut und keinesfalls konservativ. 

> Also ist von einem Medienwissenschaftler, der über Computer
> theoretisiert, zu erwarten, daß er mindestens eine simple
> Programmiersprache wie BASIC beherrscht, oder von einem
> Medienwissenschaftler, der über das Internet schreibt, daß er z.B. weiß,
> was TCP/IP, Routing und DNS sind. [Wie sonst könnte man sonst z.B.
> kompetent über ein netzaktivistisches Kunstprojekt wie voteauction.com
> schreiben, dessen DNS-Einträge zentral gelöscht wurden?] Dies sind so
> banale Mindeststandards, daß sie vorauszusetzen noch lange nicht
> heißt, ein Technik-Materialist wie Kittler zu sein.

Mir fällt da spontan ein, dass ich vor einer Weile einen Text eines 
prominenten Kunstwissenschaftlers gelesen hatte: Dort versteigt er sich zu 
der Aussage, dass es im Netz aufgrund seiner Topologie, also die Dateien auf 
entfernten Servern liegen und eine eindeutige Adresse haben, der von Benjamin 
absentierte Begriff des Originals wieder Einzug halten würde. Die Kopien 
würden wieder territorialisiert, und eben dadurch keine Kopien mehr. Tja, was 
soll man da sagen...

Insofern verstehe ich gut, was du meinst. Man muss natürlich in jedem Fall 
seine Grenzen kennen. Wenn man diese aber kennt, lässt sich sicherlich auch 
über den Computer sprechen, ohne BASIC zu können, denn schließlich

> Es ist ja gerade die Stärke von einem unsystematischen und
> nicht-medienmaterialistischen Theoretiker wie Manovich, daß seine Thesen
> unmittelbar aus dem praktischen Umgang mit Computern gewonnen sind. 

schreibt Manovich auch nicht über Algorithmen und Datenstrukturen, sondern 
schaut in den allermeisten Fällen auf die Oberfläche etwa eines 
Quicktime-Movies um dies mit Avantgarde-Kino und -Theater in einen 
Zusammenhang zu bringen (nicht ohne dabei Bertolt Brecht falsch zu schreiben, 
aber egal). Frage wäre dann schon, ob sich nicht der größte Teil von 
Manovichs "Language of New Media" ohne Programmierkenntnisse schreiben ließe. 
Und zwar, wie du selber sagst, aus besagtem praktischen Umgang heraus. Da 
fällt mir nämlich ein anderer Kunsthistoriker ein, der einen lesenswerten 
Aufsatz über die Zumutung der Assistenten unter Windows geschrieben hat, ohne 
sich mit Computern auszukennen. Ganz naiv, nur durch hinschauen und sich 
darüber wundern.  

(Apropos Manovich, gerade fällt es mir wieder ein: Vielleicht sollte ihm mal 
jemand sagen, dass .doc-Dateien auf Webseiten nichts verloren haben. Ich 
befürchte ja, mir auf dieser Liste bösen Ärger zuzuziehen, aber in Punkto 
Kompetenz könnte auch dazu gehören, zwischen offenen Standards und zwischen 
propritären Formaten zu unterscheiden. Aber es gibt ja inzwischen 
OpenOffice...) 

Beste Grüße,
Harald.