[rohrpost] Offener Brief an Dirk Baecker (Microsoft Studie
betreffend)
Till von Heiseler
Till_N_v_Heiseler at web.de
Die Jul 20 09:50:35 CEST 2004
Lieber Florian Cramer,
zunächst einmal ist dein Vorschlag, was Software angeht, für mich nachvollziehbar. Aber ich bin in dieser Hinsicht wirklich kein Fachmann. Allerdings ging es mir in meinem Brief nicht allein um die Zukunft der Kontribution von Software (auch rechtlich weiß ich darüber nicht genug), sondern vor allem um zweierlei:
1) Mich hat interessiert, wie Wissenschaftler Arbeitsgebiete auswählen, weil durch diese Auswahl sich die Wissenschaft ausbildet und ihre Zukunft bestimmt wird. Meine These ist, dass Wissenschaftler ihre Forschung – und das betrifft nicht nur die Studie – vollkommen am strukturfunktionalen Zusammenhang ausrichten. Die einzelne, kontingente Entscheidung für ein bestimmtes Forschungsgebiet oder eine bestimmte Fragestellung wird über den Wunsch, im System Wissenschaft Reputation zu erwerben, an das Bestehende angeschlossen. Dies kann nun entweder in Richtung Pointenreichtum, „Kritisch-Sein“ oder Wirtschaft etc. geschehen, je nachdem, was im jeweiligen Bereich maximale Reputation verspricht. Damit unterliegt das System Wissenschaft einem weitgehend blinden Ausdifferenzierungsprozess.
Dirk Baecker halte ich für einen recht guten Wissenschaftler (obwohl ihm vielleicht ein wenig die „Kühnheit des Denkens“ fehlt) Das traurige aber ist, dass alle seine Theorien, da, wo sie nicht auf Tiefsinnigkeit und „Paradoxie der Form“ hinauslaufen, als betriebswirtschaftliche Adaptionen von Luhmann’scher Systemtheorie gelesen werden können. Das halte ich gesellschaftlich für äußerst ungünstig, weil auf diese Weise der betriebwirtschaftliche Blick auf eine neue Ebene gehoben wird.
Vielleicht überschätze ich die Systemtheorie, aber immerhin wäre es möglich, dass aus ihr eine Praxis von großer Kraft entstehen könnte. Deshalb wäre es u.U. sinnvoll, die Systemtheorie für medienaktivistische Projekte nutzbar zu machen. Aus diesem Grund versuche ich seit einiger Zeit einen kommunikativen Zusammenhang von akademischen Medien- und Gesellschaftswissenschaftlern und politischen Denkern und Medienaktivisten herzustellen. In diesem kommunikativen Zusammenhang könnte multiauktorial und intermedial eine Medien- und Gesellschaftstheorie entstehen, die eben auch behandeln könnte, wie Medien in einer demokratischen und freien Gesellschaft genutzt werden könnten. Hinter dieser Konzeption steht, dass die Komplexität heutiger Weltgesellschaft, kindlich gesprochen, ein Viel-Hirn-Problem (Heinz von Foerster) darstellt und das auf nationale, regionale und betriebswirtschaftliche Perspektiven zugunsten einer globalen Perspektive verzichtet werden sollte.
Diese Frage der Mediennutzung schließt nun die Frage der Software und ihrer Kontribution mit ein. Umgekehrt kann aber die Frage der Software und ihrer Kontribution nur in einem weltgesellschaftlichen Rahmen gesehen werden und müsste womöglich im Zusammenhang mit Veränderungen der Produktion und den sozialen Auswirkungen dieser Produktionsveränderung gesehen werden.
Mein Ansatz betrifft also nicht vor allem die Sachebene, sondern die Struktur. Das heißt natürlich nicht, dass die Sachebene unwichtig sei. In diesem Zusammenhang würde ich mich fragen, ob nicht die Studie Anlass eines gemeinsamen offenen Briefes werden könnte, dessen Aufgabe darin bestünde, gewisse Forderungen oder Gedanken der Freien Software Bewegung in die Öffentlichkeit zu tragen.
2) Meine zweite Idee war - und es kann sein, dass diese schwachsinnig ist - unter Umständen in einen Dialog mit Microsoft zu treten. Um dies möglich zu machen, habe ich im offenen Brief an Dirk Baecker die Perspektive des Auftragsgebers über Weite strecken berücksichtigt. Wie gesagt, kann das auch die vollkommen falsche Idee sein: Gedacht hatte ich daran, Microsoft ein Wochenende vorzuschlagen, an dem Vertreter der Freien Software Bewegung und Vertreter vom Microsoft Germany zusammenkommen. Es könnte nämlich sein, dass weitgehend gewinnneutrale Überlegungen gesellschaftlich einen großen Unterschied machen. Ich kann mich hier natürlich täuschen, aber theoretisch könnte diese Möglichkeit bestehen.
Eine Alternative wäre dann natürlich zu sagen: „Nein, das hat keinen Sinn. Es geht allein um Freie Software und ihre Verbreitung und Durchsetzung.“ – nur dann müsste man sich auf den Alex stellen und für 1 Euro Open Office incl. einem entsprechenden Flugblatt verteilen und beginnen über Marketing für Open-Sourcesoftware nachzudenken. Wie etwa würde eine Open-Source-Marketingstrategie für Open-Sourcesoftware aussehen?
***
...Dirk Baecker interessiert mich also in diesem Zusammenhang als Phänomen: Ein an sich hochintelligenter Wissenschaftler wählt aufgrund mir uneinsichtiger Faktoren (sicherlich wird das Selbstbewusstsein hier eine Rolle spielen) eine vollkommen kontraproduktive Arbeit. Wie kann das passieren? Wie geht das im Einzelnen vor? Wie wäre dies zu verhindern gewesen? Welche Auswirkungen hat seine Haltung auf seine Studenten? Kurz: Wie können Medien-, Kommunikations- und Gesellschaftswissenschaftler dazu gebracht werden, eine Perspektive der Globalität einzunehmen und ihre Arbeit in diesem Sinne fruchtbar werden zu lassen? Florian Schneider, den ich sehr schätze, schreibt auf seiner Seite: When it comes to realizing the unrealizable, the key word is collaboration.
Würde mich sehr über eine Antwort freuen...
Glück zu allen!
till
P.S. Es wäre natürlich auch möglich, gemeinsam einen offenen Brief an Dirk Baecker für eine Zeitung zu schreiben, in der die augenblickliche, sicherlich heterogene Position der Freien-Software-Bewegung einfach und klar dargestellt werden könnte. Als Vorgehensweise könnte ich mir vorstellen, dass, wer möchte, Kommentare schreibt und ich oder jemand anderes das Ganze dann solange ordnet bis (fast) alle zufrieden sind....
Florian Cramer <cantsin at zedat.fu-berlin.de> schrieb am 17.07.04 17:00:01:
>
> [Hier eine erweiterte Fassung meiner schon gestern an Till privat
> geschickten Reaktion:]
>
>
> Ich finde das Anliegen verständlich, den Brief jedoch nicht glücklich
> formuliert. Die Formulierungen sollten meiner Meinung nach erheblich
> gestrafft und versachlicht, d.h. von Polemik, persönlichen
> Anschuldigungen sowie von Dingen befreit werden, die vom eigentlichen
> Gegenstand ablenken ("US-amerikanische Monopole" etc.).
>
> An dieser Studie ist aus meiner Sicht vor allem ein Punkt perfide, daß
> sie nämlich unlizenzierte Kopien proprietärer Software mit frei
> lizenzierter Software unter dem Stichwort "Software [...] [als] ein
> freies Gut, über das niemand eigentumsrechtlich verfügen können sollte"
> (S.16) zusammenfaßt. Zunächst fällt die so subtile wie dreiste
> Verwechselung von Eigentums- und Urheberrecht auf. Und selbst wenn man die
> Formulierung ändern würde in "ein freies Gut, über das niemand
> urheberrechtlich verfügen sollte", würde sie ein propagandistisches
> Zerrbild der freien Softwarebewegung produzieren, deren Lizenzen sehr
> wohl auf dem Urheberrecht basieren und die Urheberschaft der
> Programmierer honorieren.
>
> So wurde den Probanden der Studie, wie man das aus soziologischer
> Meinungsforschung hinlänglich kennt, eine Suggestivfrage gestellt. Die
> Antworten hätten gewiß anders gelautet, wenn man sie gefragt, ob (a) sie
> es gutheißen, wenn Software von ihren Urhebern den Nutzern als freies
> Gut zur Verfügung gestellt wird oder (b) Software denselben
> Nutzungseinschränkungen und -freiheiten unterliegen sollte, wie sie das
> klassische Urheberrecht für andere Werke vorsieht. Dies schließt ja z.B.
> das Recht auf freien öffentlichen Verleih von Werken ein und die freie
> Verwendung von Werken im Schulunterricht.
>
> Deine Antwort läuft aber genau in die Falle, der o.g.
> Suggestiv-Argumentation zu folgen, die - schlicht gesagt - freie
> Software und freie Information mit "Warez" gleichsetzt. Eine Diskussion
> über die politische oder ökonomische Legitimität von Warez zu führen,
> ist genau den Gefallen, den man Microsoft und den Autoren der Studie
> nicht tun sollte.
>
> Das Ärgerliche an dieser Studie ist, daß sie offensichtlich von Ökonomen
> und Soziologen ohne juristischen Sachverstand geschrieben wurde, aber
> letztlich juristische Fragen verhandelt. Z.B. scheinen die Autoren,
> aber auch Baecker, der irrigen Annahme aufzusitzen, Herstellerlizenzen
> seien synonym mit Urheber- oder gar Eigentumsrecht. Ein Urheber kann mit
> einer Lizenz weitgehendere Nutzungsrechte einräumen, als die das
> Standard-Urheberrecht vorsieht. Aus diesem Grund sind EULAs ("End User
> Licensing Agreements"), deren Lizenzen die gesetzlichen Spielregeln
> nicht erweitern, sondern restringieren, juristisch umstritten und sehr
> wahrscheinlich rechtsungültig. [Um dies in den offenen Brief zu
> schreiben, müßte hier aber noch mehr juristischer Sachverstand als mein
> Laienwissen eingeholt werden.] Auch reflektiert weder die Studie, noch
> Baecker in den Aussagen, die der Heise-Ticker zitiert, daß im
> europäischen Rechtsraum anders als in den USA das Urheberrecht
> unveräußerlich ist, also nicht eine Softwarefirma, sondern ihre
> angestellten Programmierer das Urheberrecht am Code besitzen und
> höchstens die Verwertung vertraglich an die Firma abtreten können.
>
> Stattdessen, und das ist wiederum das Ärgerliche, produziert der Text
> Wortschwaden - genau besehen: Dummwörter - wie "Digitale Mentalität" und
> "digital honesty", die in der Tat vage nach Merve-Verlag und ars
> electronica klingen, um die schnöde Tatsache einer inhaltlich banalen,
> typischen bestellten Industriestudie auf Fachhochschulniveau zu
> übertünchen.
>
> Würde man Begriffe wie "digital honesty" ernstnehmen, dann könnte ja ein
> Schluß sein, daß Privatleute statt unlizenzierte Kopien proprietärer
> Software einzusetzen, Konsumverzicht zu üben oder proprietäre Lizenzen
> zu kaufen, Freie Software einzusetzen sollten. Damit wäre im Sinne der
> Ehrlichkeit beiden Seiten gedient, die proprietäre Softwareindustrie
> hätte kein "Raubkopie"-Problem mehr, freie Software hätte die
> Nutzermassen, dank derer sie endlich offenen Standards von Dateiformaten
> und Netzwerkprotokollen durchsetzen und somit zum Nutzen aller offen
> halten könnte. (So daß z.B. nicht mehr die Frage wäre, ob Openoffice
> kompatibel zu MS Office ist, sondern wann MS Office seine Dateiformate
> Openoffice-kompatibel auf offene XML-Formate umstellen würde.)
>
> Die Studie könnte "digital honesty" schließlich auch von proprietären
> Softwareherstellern fordern: Indem sie die private Verwendung
> unlizenzierter Kopien weder erlauben, noch - wie es Microsoft ja in der
> Heise-Meldung sagt - juristisch verfolgen, schaffen sie selbst einen
> grauen Markt, natürlich mit der Absicht, sich Marktführerschaft zu
> verschaffen, Standards zu definieren und Verluste im
> Privatkundengescháfts über teure Lizenzverkäufe an Firmen und Behörden
> mehr als zu kompensieren.
>
> > Dirk Baecker, der sich in den letzten Jahrenzehnten durch
> > Publikationen im Merve Verlag und durch Auftritte u.a. bei der ars
> > electronica hervorgetan hat, hat nun eine Studie für Microsoft
> > verfasst,
>
> Das ist so nicht ganz richtig. Die Studie wurde unter seiner Aufsicht
> an seinem Lehrstuhl verfaßt, nicht aber von ihm selbst.
>
> Gut, Baecker outet sich auch in der Heise-Meldung als Anhänger von
> proprietären Lizenzierungsmodellen und DRM. Als Luhmannianer ist er hier
> durchaus konsequent. Luhmanns eigentümliche Version der allgemeinen
> Systemtheorie, wie sie von Ludwig von Bertalanffy in den 1950er Jahren
> begründet wurde, besteht ja in seiner Negation der Existenz offener
> System (während Bertalanffy im Gegenteil postuliert hatte, daß
> jedes geschlossene System an seiner Entropie zugrundegeht) und der
> Behauptung, auch Sozialsysteme seien operational geschlossen und
> selbstbezüglich. - Beide Theorien waren natürlich Spiegel ihrer Zeit,
> des kalten Krieges bei Bertalanffy und eines saturierten westdeutschen
> Technokratismus und Bürokratismus bei Luhmann. Und auch Microsoft ließe
> sich gewiß hervorragend als Luhmannsches System beschreiben, ja, als
> konsequenter Luhmannianer müßte man freie Software als Illusion
> verwerfen.
>
> Darüber könnte man mit Baecker diskutieren - schade, daß die Studie
> nicht früher erschienen ist, dann hätten die WOS3 dazu gute Gelegenheit
> geboten. Pro-Softwareindustrie und DRM-Positionen zu vertreten, scheint
> mir per se nicht moralisch verwerflich oder wissenschaftlich ehrenrührig
> (wenn auch ein schaler Nachgeschmack bleibt, wie damals bei Norbert
> Bolz' Auftritt im Telekom-Werbespot).
>
> Um aber eine Inkosistenz der Microsoft-Studie und von Baeckers
> theoretischen (ggfs. auch ethischen) Positionen nachzuweisen, müßte man
> tiefer schürfen. Polemische Pauschalkritik an Microsoft etc. und
> Formulierungsmätzchen würde ich dabei tunlichst vermeiden.
>
> Gruß,
>
> -F
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> <hr>
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