[rohrpost] Tiamat Verlag verbietet link auf einem Internetseminar
Florian Cramer
cantsin at zedat.fu-berlin.de
Don Aug 18 23:53:21 CEST 2005
Am Donnerstag, 18. August 2005 um 14:13:58 Uhr (+0200) schrieb Till
Nikolaus von Heiseler:
> Kunst wie auch Wissenschaft haben eben keinen gesellschaftlichen
> Anspruch, sondern schieben diesen nur vor, um ihre eigenen Interessen,
> die auf der individuellen Ebene Karriere-Interessen sind, zu
> verfolgen.
Deine Aussage impliziert, daß die individuelle Ebene nicht die
einzige ist. Wenn es aber auch nicht-individuelle Interessen gibt, sind
diese qua Logik nun einmal gesellschaftliche Interessen. Es wäre doch
naiv zu glauben, daß - um mal im engeren Themengebiet dieser Liste zu
bleiben - z.B. computerkryptographische Forschung und, im Feld der
Künste, ein Computerspiel wie "Die Sims" keinen gesellschaftlichen
Anspruch haben. Mal abgesehen davon, daß natürlich auch ein
Karriere-Interesse ein gesellschaftlicher Anspruch ist.
Ansonsten halte ich zumindest Deinen Kunstbegriff, wie auch den von
Luhmann und Groys, für extrem verengt. Auch hier auf der Liste gibt es
häufig Mißverständnisse, weil die einen mit Kunst westlich-autonome
Kunstbetriebs-Kunst meinen und die anderen Künste und künstlerische
Artikulation im allgemeinsten Sinne. Aber die Debatte hatten wir ja hier
schon einmal.
> Hier kann es nicht um Kunstwerke gehen,
> nicht um Software, die nur Möglichkeiten schafft und keine Wirklichkeiten.
Das ist aber ein seltsamer Begriff von Wirklichkeit. Selbstverständlich
schafft doch ein Kunstwerk eine Wirklichkeit - oder definiert
Wirklichkeit (bzw. ihre Wahrnehmung) sogar neu, wie es etwa die abstrakte
Malerei Anfang des 20. Jahrhunderts getan hat oder ein Roman wie
"Ulysses". Und Computersoftware schafft sehr unmittelbar Wirklichkeit
z.B. dann, wenn sie in einer Bankzentrale läuft und mir nach dreimaligem
Vertippen meiner PIN-Nummer meine Kontokarte sperrt.
> Unsere These ist, dass es weniger darum geht, eine immer avanciertere Technik
> zu entwickeln, sondern darum, die bestehenden technischen Möglichkeiten in
> anderer Weise zu nutzen und jene Punkte auszumachen, wo Konventionen
> und tradierte Formate uns daran hindern, die Chancen der Gegenwart zu ergreifen.
Klar, aber ist das nicht schon immer das Programm kritischer und
experimenteller Netzkunst- und -kultur gewesen, z.B. als Nettime mit dem
Anspruch eines Gegendiskurses der (mit dem Dotcom-Crash weitgehend
untergegangenen) sog. "kalifornischen Ideologie" von Wired,
Extroprianern & Co. gegründet wurde oder die Net.art mit low tech gegen
die Silicon Graphics-Installationen im ZKM, MIT und auf der ars
electronica antrat? Und haben nicht Künstler wie z.B. 01.org,
ubermorgen.com und Cornelia Sollfrank in ihren jeweiligen Entwicklungen
gezeigt, wie man den technologischen Aufwand sogar noch radikaler
herunterkochen kann, um mit minimalen Interventionen Konventionen zu
auszuhebeln?
Es stimmt allerdings, daß die Ansprüche, die Du oben anführst, oft auch
bei denen verfehlt worden sind, die sie ursprünglich im Schilde führten,
und es immer wieder nötig ist, sie zu erneuern.
> Mit operativ herbeigeführten Brüchen, mit der Einführung von Spielregeln, mit
> Entscheidungen für ungewöhnlichen Einsatz von Medien, mit Übertragungen von
> Strukturen, Arbeitsweisen und Proportionen von einem Medium auf ein anderes,
> mit der Neukombination von ästhetischer und semantischer Dimension, mit
> experimenteller Adressierung (vgl. http://www.wmg-seminar.de/html/adressierung.htm )
> u.a. soll der Möglichkeitsraum, der in der Differenz zwischen dem Potential des
> physischen Mediums einerseits und seinem Gebrauch andererseits liegt, theoretisch
> und praktisch erkundet werden.
Darin sehe ich aber kein besonderes Handlungsprogramm, sondern eine
generische Beschreibung dessen, was gute experimentelle Kunst (die ja
zwangsläufig auch Technik- bzw. Medienexperiment ist) tut und schon
immer gemacht hat. Mit dem obigen Absatz paßt z.B. problemlos auf
Oulipo, Fluxus, Situationisten, Dadaisten, Experimentalfilmer,
Netzkünstler.
> Da aber auch die Theorie sich in Formaten entwickelt, ist eine Selbstanwendung
> möglich.
D'accord. Allerdings finde ich das Experiment mit Formaten in der
Theorie oft eine zweischneidige Sache. Es führt entweder zu brillanten
oder zumindest interessanten Ergebnissen - Aby Warburgs Atlanten fielen
mir spontan ein, Roland Barthes "S/Z", Derridas "Glas" oder Hofstadters
"Gödel, Escher, Bach". Im schlimmsten und leider typischen Fall führt es
jedoch zu einer Ästhetisierung und Stilisierung von Theorie, die sich
"hip" gibt, um erstens eine Distanz zum Publikum zu schaffen und
zweitens halbgare, oder ungenaues Denken und Arbeiten zu kaschieren.
Dies z.B. werfe ich fast allen sogenannten "kulturlinken"
"Pop-Intellektuellen" vor. Insofern sympathisiere ich mit einem gewissen
Format-Konservativismus - also z.B. klassischen Vortragserzählungen,
Aufsätzen und altmodischen Einführungen - dann, wenn Vermittlung von
Wissen, einschließlich Wissen über zeitgenössische Kunst und Kultur,
gefragt ist. Das heißt nicht, daß man Formate nicht in Frage stellen und
Rituale sprengen sollte. Aber man muß dabei aufpassen, daß dies nicht in
Jargon, Guru-Shows und einen selbstgefälligen, voraufklärerischen
Zynismus gegenüber dem Publikum umkippt.
> Eine Medien- und Formattheorie könnte sich also nicht nur als Theorie in
> Medien und Formaten verstehen, sondern die diskursiven Bedingungen ihrer Ausbildung
> operativ berühren.
Auch da finde ich das konservative Gegenargument nicht verkehrt. Ich
glaube z.B., daß man zumindest im Erststudium sich am besten zum
(sog.) Medienwissenschaftler ausbilden kann, indem man klassische
geisteswissenschaftliche Fächer studiert und
Medien- bzw. Kulturwissenschaft als Nebenfach belegt oder ganz drauf
verzichtet, wenn man von Computern und elektronischen Medien sowieso
schon mehr versteht als der Professor. Ein gutes Forschungsgebiet
ist nicht automatisch auch ein gutes Lehrfach, und man kann dann am
besten interdisziplinär arbeiten, wenn sich Universalisten mit
verschiedenen fachlichen Spezialisierungen bzw. Hintergründen treffen.
Es hat Vorteile, erst durch eine konventionelle, "alte" Schule gegangen
zu sein und dann eigenständig deren Parameter über Haufen werfen zu
können, anstatt in der Ausbildung von Anfang an und permanent mit dem
Über-Haufen-Werfen von Parametern und Paradigmen konfrontiert zu werden,
die man noch gar nicht richtig kennt. Deshalb gelten fürs experimentelle
Herumschrauben an der Ausbildung dieselben Vorsichtsgründe wie für
experimentelle Theorieformate. Was natürlich nicht heißt, daß man es
nicht punktuell versuchen sollte.
-F
--
http://cramer.netzliteratur.net