[rohrpost] Heidenreich - Der Kunstexperte

sascha brossmann brsma at gmx.net
Mon Feb 14 21:03:38 CET 2005


Am 12.02.2005 um 21:46 schrieb Florian Cramer:
> Ich. Aber nicht die Pseudo-Autonomie von Museumskunst, die
> Stefan völlig treffend analysiert, d.h. auseinandernimmt.

wenn ich kunst (genau wie auch wissenschaft) durch eine 
(amateur-)ethnologische brille betrachte, erhalte ich den eindruck, 
dass es sich dabei letzendlich um äusserungsformen einer 
(säkularisierten) priesterkaste handelt. die frage von "autonomie" 
reduziert sich für mich nicht nur deshalb letztendlich auf die frage: 
wie viel illusionsverlust kann ich ertragen bzw. welches mass an 
naivität injiziere ich meinem weltsichtshirngespinst? aber viele der 
kollegen sind ja schon seit jahrhunderten durch wenige dinge mehr zu 
erschrecken, als durch die vorstellung, man könnte sie und ihr tun in 
irgendeiner weise erklären oder in weniger verklärende zusammenhänge 
stellen... >;-> lasst mehr marmorsockel bröckeln! (auch die der 
off-kultur.)

> Dies gilt erst seit ungefähr den 1980er Jahren, seit denen es 
> (bildende)
> Kunst zunehmend aufgegeben hat, eigene Ästhetiken bzw. Bildsprachen zu
> entwickeln.

im grunde aber auch schon erheblich früher: was ist z.b. mit popart? 
und was z.b. die bildsprache "der" konzeptkunst?

ich denke darüber hinaus auch, dass es in diesem zusammenhang schwierig 
ist von "der (bildenden) kunst" zu sprechen. den von dir beobachteten 
verzicht auf die entwicklung eigener bildsprachen kann ich im grunde 
vorwiegend für den bereich der "dokumentarischen" arbeit bestätigen, 
ganz besonders in zusammenhang mit einem imho entsetzlich blöden 
wirklichkeitsfetisch. diese fänomen ist m.e. aber noch ein stück weit 
davon entfernt, die mehrheit der künstlerischen produktion auszumachen. 
documenta und konsorten finde ich in der hinsicht auch nicht unbedingt 
übermässig repräsentativ.

> Der Produktionsstandard mag feudal sein, er paßt jedoch ausgezeichnet 
> in
> den Kapitalismus.

ich würde ihn noch viel eher als "bürgerlich" bezeichnen. (auch wenn 
sich das bürgertum einige feudalitäten angeeignet haben mag).

> (...) deshalb als spekulative, potentiell hochprofitable Geldanlage 
> taugt.

d'accord, zumindest in ein paar fällen - siehe z.b. saatchi. im 
vergleich zu anderen anlage-/renditemöglichkeiten erscheint mir das 
aber vergleichsweise marginal. darüber hinaus aber nicht zu 
unterschätzen ist (bildende) kunst als merkmal effektiver 
gesellschaftlicher distinktion (bourdieu lässt grüssen). und das ist 
unabhängig von der funktion als geldanlage, letztere ist gewissermassen 
nur ein netter zusatzeffekt, aber im grunde nicht notwendig.

> Kunstmuseen heute zu den reaktionärsten. Nicht weil sie bewahrende
> Institutionen sind, sondern weil sie ihren öffentlichen Auftrag mit den
> Füßen treten. Über den juristischen Trick einer Kombination von

unabhängig von der stichhaltigkeit der von dir angebrachten 
institutionskritik finde diese personalisierungen à la "das museum", 
"das kapital", "das proletariat", "die kunst", "die hurzpharylen" etc. 
eher selten hilfreich. für eine schöne polemik mögen sie durchaus gut 
sein (nichts gegen eine schöne polemik!), aber aufgrund der eklatanten 
vereinfachungsgefahr scheinen sie mir einem verständnis der durch sie 
repräsentierten strukturen und prozesse alles in allem weniger 
zuträglich. v.a. die komplexeren zusammenhänge dürften dabei auf der 
strecke bleiben.

> ...wie es auf der letzten Documenta mit ihrer naiven 
> Dokumentarvideoästhetik im Stil eines globalisierungskritischen 
> Künstler-CNN so schön zu sehen war.

<vitriol> wenn einem nichts mehr einfällt, macht man halt einen auf 
explizit kritischpolitisch, das hätschelt und tätschelt trotz aller 
wirkungslosigkeit das gute gewissen des artistensimpels und seiner 
wohlverdienten rezipienten. zudem scheinen die plakative engagiertheit 
der meisten arbeiten und ihre anderweitigen qualitäten ein gut 
funktionierendes system kommunizierender röhren zu bilden, sodass 
gewisse intellektuelle und formale mängel zum glück bequem ausgeglichen 
werden können, indem eine ausreichende menge poesiealbumsmoralin 
hineingepumpt wird. dass kunst als vom wesen her öffentliche 
angelegenheit eh immer politisch ist (was sich aber im fall der 
intelligenteren/gekonnteren ausprägungen möglicherweise nur der noch zu 
recht als "homo sapiens" bezeichneten hirnbenutzerin erschliessen mag) 
-- wen schert's.</vitriol>

(im übrigen fällt mir hierzu auch noch das stichwort "interpassivität" 
ein -- robert pfaller, bitte übernehmen!)

> vergleichbaren Sackgasse totgelaufener Akademismen.  Die Kunst, die als
> moderne Kunst schlechthin gilt, fand damals außerhalb des offiziellen
> Kunstbetriebs und seines Wahrnehmungshorizonts statt.

gilt das nicht schlechthin? zumindest solange man an kunst die 
forderung von "innovation" (in welcher form auch immer) richtet, 
bedeutet jede institutionalisierung das ende eben dieser "innovation". 
die neuerung kann m.e. dabei immer *nur* von aussen kommen.

> Für die Kunstavantgarden war es kein Widerspruch, auf sie einerseits zu
> reagieren und sie andererseits zu beeinflussen.

das fänomen gibt es auch schon erheblich früher. z.b. die gesamte 
rennaisance ist voll von solchen beispielen: die ölmalerei war nicht 
zuletzt auch eine *technische* revolution, dann die ganzen 
sehhilfsapparate & die camera obscura (der afaik erste technische 
bildapparat, und die ist selbst ja noch *erheblich* älter), später der 
kupferstich, ... (bei kurzem weiterem nachdenken fallen mir z.b. auch 
noch die gotischen buntglasfenster ein; die liste liesse sich 
vermutlich noch recht lange weiterführen.)

> Was wäre elektronische Club-Musik ohne Stockhausen, Hiller, Boulez, 
> Pousseur, allesamt Repräsentanten einer nichtkommerziellen, staatlich 
> subventionierten, akademischen Hochkultur?

und was ohne die erheblich weniger subventionierten sun ra, afrika 
bambaataa & co.? (lies z.b. kodwo eshun: heller als die sonne). auch 
dem postboten, der vor gut 15 jahren mit einer alten roland tr808 & co. 
herumspielte und dabei (detroit/chicago-)techno gewissermassen mit 
erfand, dürften die von dir genannten ziemlich unbekannt gewesen sein. 
dass die *hardware* anfangs akademischen urprungs war scheint mir eher 
eine untergeordnete rolle zu spielen, denn der *gebrauch* und die 
(musikalische) sozialisation ist i.d.r. grundverschieden.

> Club-Musik erreicht selbst in ihren experimentellsten Ablegern kaum 
> die Komplexität und Subtilität der Musiksprachen akademisch 
> ausgebildeter Komponisten.

denen geht dafür oft die physische präsenz/intensität ab, von einigen 
für mich grossartigen ausnahmen abgesehen (varèse! scelsi! xenakis! 
oliveiros!...). die menge derer, die dank ihrer akademischen ausbildung 
sehr komplexe, subtile langeweile produzieren ist leider auch nicht so 
gering (und die dröge steifheit der neue-musik-szene fast schon 
sprichwörtlich). interessant wird's wenigstens für mich meistens 
irgendwo dazwischen...

(was die musikalische überbewertung der "experimentellen" clubmusik 
betrifft hat z.b. büsser in "antipop" recht fundiert vom leder gezogen, 
wenngleich streckenweise auch *arg* gallig.)

> Und auch das Internet ist eine staatlich-akademische Entwicklung, die 
> zu begreifen der Kommerz ein Vierteljahrhundert lang brauchte

... und  ausserhalb bestimmter fachdomänen ja auch die universitäten 
selbst. wenn ich mich so umsehe war der kommerz im grunde sogar fast 
schneller. >;->

> und, als es so weit war, erst glaubte, sie mit proprietären 
> Onlinediensten wie AOL, Compuserve und T-Online kontern zu können.

naja, z.b. compuserve kann man noch als eine (seinerzeit durchaus 
solide) kommerzialisierung der mailboxszene betrachten. t-online & co. 
sind ein anderes kapitel...

> In Literatur und Dichtung hat Kommerz- und Popkultur bis heute nicht 
> einen einzigen guten Schriftsteller hervorgebracht, höchstens gute 
> Drehbuchautoren.

hm, was ist z.b. (zeitlich etwas früher) mit der ganzen beatnik-ecke? 
was mit thomas meinecke? ggf. boyle? (abgesehen von der für mich 
grausigen beobachtung, dass momentan anscheinend alle welt nur noch 
wieder auf den nächsten "grossen erzähler" wartet.) allerdings: was 
allerdings derzeit normalerweise unter dem label "popliteratur" 
gehandelt wird... <Q"§&/$%/!>

herzlichst

sascha