[rohrpost] lass uns lieber nicht ueber kunst reden

Pit Schultz pit at midas.in-berlin.de
Don Feb 17 20:27:02 CET 2005


At 21:46 12.02.2005, you wrote:

in so einem forum "kunst" zu rufen,
das ist fast wie eine riesige flasche aufzumachen und zu sagen,
trinkt was ihr koennt es ist noch genug da.
im uebrigen es ist eine sache ueber "netzkultur" zu schreiben,
eine andere ist es sie zu praktizieren...

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>Am Donnerstag, 10. Februar 2005 um 19:04:30 Uhr (+0100) schrieb mercedes bunz:
>
> > super. wollen wir das diskutieren? will hier
> > jemand die autonomie der kunst retten?
>
>Ich. Aber nicht die Pseudo-Autonomie von Museumskunst, die
>Stefan völlig treffend analysiert, d.h. auseinandernimmt. In seinen
>Thesen klingt übrigens eine interessante Nähe zu den marxistischen
>Positionen von Gustav Metzger, den Situationisten, Roger Taylor und John
>Zerzan an.

stefan nimmt auf was in den neunzigern gaengige praxis war, und
institutionskritik, spaeter kontext kunst genannt wurde, vergleichbares hat 
heidenreich
mit  flipflop geleistet, er hat das wilde wissen der sofaecken und kneipen 
berlins
recht flott und strukturiert zu papier gebracht.

((das hat beispielsweise auch mit den situationisten zu tun die aber 
oefters auch in ihrer
wiederaneignung als eben das hochnaesig-aristokratische produkt dessen 
erkannt wurden,
als was stefan es beschreibt, ein produkt des betriebs. auch bei den 
neosituationisten
galt, die originellsten waren diejenigen, welche ohne jede explizite
referenz auskamen, wie z.b. heath bunting. oder aber dem beklagenswerten
ueberlaufen von politischen kulturlinken zu kunstkuratoren, im glauben dass
eine ausstellung eine ebensolche wirkung haben koennte wie ein
aufgefrischtes politmagazin oder eine kleine demo. ))

immer muss man also genau hinschauen,
die umstaende untersuchen. nie ist eine nachricht ohne die sie ueberbringende
roehre zu verstehen. oft wartet der verlust der grundlagen in form einer 
totalen umwertung, und so
wird man viel dafuer tun die betrachter darueber moeglichst im unklaren zu 
lassen.
insofern gaebe es nur eines zu fordern, die autonomie des betrachters, und 
offene
quellen.

kunst soll also heute wieder autonom werden, weil sie die freiheit der
kunst die freiheit des marktes, des kunstmarktes, versteht sich, auf
so wunderbare weise "ergaenzt" und darstellt, ganz besonders wenn es sich
um institutionelle kunst handelt. poltische kunst kann, und das ist
auch schon benjamin aufgefallen, blosse verharmlosung bedeuten,
auf einen ein schattenkampf im symbolischen hinauslaufen.

in diesem sinne markiert die derzeitige debatte um politisierung, oder
gar re - polititisierung praktisch gesehen ihr genaues
gegenteil. naemlich das politik-verstaendnis einer totalen mediokratie
wie es die regierung schroeder in abfolge zu kohl verstanden hat zu 
etablieren,
gerade weil sie sich an ihren raendern "querdenker" installiert, vorzugsweise
im bildungs und kulturbereich. der kunstbetrieb sublimiert das politische, 
simuliert
das freie individuum in einer white-cube situation, praesentiert kritische 
issues,
um kritik andern orts unwerksam werden zu lassen, und eben nicht um diese zu
unterstuetzen, und bewirkt eben gerade  eine ent-politisierung des 
politischen.
ganz in diesem sinne entsorgt die kulturministerin
christina weiss die stasi akten derzeit. aber all das ist nicht neu. das
thema wurde bereits mehrmals in aktivistendebatten behandelt.

was bedeutet autonomie der kunst im kern?
kunstfreiheit koennte vor allem eine freiheit von der kunst bedeuten,
also eine autonomie der kunst in bezug auf ihren betrieb, von ihrer 
historisierung,
ihrer musealisierung, dokumentation usw. usw. das war dann auch
laengst thema bei fluxus, autodestruktiver kunst, sicher auch neoismus, und
ich persoenlich finde mich immer wieder bestaetigt dass kunst ein
durchaus vernachlaessigbares label ist, dass als solches
keinerlei erkenntnisvorteile mehr verspricht, wohl aber jobs, und
vor allem verspricht es das versprechen selbst, und ist genau
dadurch wirksam. es ist ein versprechen auf bedeutung, das
allzuoft bei genauem hinsehen nicht eingeloest sondern nur verschoben
wird, bzw. sich in "aufmerksamkeit", oder anderen wertmessungen niederschlaegt.
es ist also dieser narzistische wert, einer inviduellen autorenschaft, die
im kern aller produktion die kunst als koenigsdisziplin des freien handelns
und produzierens auserkoren hat, und genau hier scheiter sie auch und
wird so unerhoert mittelmaessig zum diskursiven dienstleistungssektor.

es war interessant dass kuerzlich bei einem auesserst
gut besuchter kongress in der volksbuehne, holver kube ventura,
einen beherzten aufruf fuer das recht auf ambivalenz, und achtung,
auf autonome kunst, in die runde brachte, wohlweislich aus dem belly
of the beast of institutionskunst heraus argumentierend
und den dort herrschenden sachzwaengen, was das spielen auf
dem themen-klavier und das erklaerungsnotstandsmanagement
der kuenstlerInnen angeht. dennoch erinnerte sein gut informiertes
lamento sehr an ein ernuechtertes hoch auf kippenberger und co,
derjenigen kuenstlerbiographien die sogar posthum erstaunlich-ernstaunlich
den symbolischen tod ueberstehen und friedrich karl flick als herr
des notorischen flutschfingers ganz neue bedeutungen abringen,
worauf kuerzlich herr dietrichsen hinwies. dennoch ist das zurueckgreifen
auf dies und jenes der koelner achziger oder pariser siebziger
nun wirklich nur dann erhellend wenn man dies und jenes vergessen
oder eh nie gewusst hat.

das in diesem sinne unaufgeklaerte reden ueber medienkunst
(was hat bitte um alles in der welt der ansatz von lovink *methodisch*
mit heidenreich zu tun ausser einem gewissen "zusammenhang" zeitlich und sozial
gesehen) ist besonders bedauerlich, weil gerade an der medienkunst stefans
ansatz, und damit der kontextkritische ansatz der gruppenkunst der
neunziger gut sichtbar wird. stefan roemer hat darauf auch schon hingewiesen,
auch wenn ich nicht darin uebereinstimme, dass brecht/benjamin darin heute
aktualisierbar waeren. auch hier waere zu fragen, welche ambivalenzen
bestimmt das werk der heroen, gerade wenn es sich politisch nennt, welche 
pragmatiken
treiben brecht z.b. voran wenn er seine forderungen an den radiointendanten
stellt? und wieso ist benjamin so ausweichend, so verdammt intellektuell
nicht zu greifen, wenn er persoenlich ganz praktisch ebenso flieht. sollen 
diese
helden weiter unsere stichwortgeber bleiben, wie in den letzten 60 jahren.
es ist eben dieser pragmatismus, der systemimmanente, welcher derzeit am
ehesten noch latour adressiert und keinesfalls luhmann. all die kleinen 
schmutzigen
tricks die man kennen muss, um selbst wenn man nicht so talentiert ist, sich
durchzusetzen. diese selbst-disziplin, die kunst des managements und der
adminstrativa, das jonglieren mit sachzwaengen, bestimmt die diskurse, auch
kunst, heute viel mehr als alle begriffe.

die *peinliche* frage ist ja immer noch: wie funktioniert die kunst? wie ist
sie zu einem bestimmten platz gekommen, was kann sie darueber berichten wie
sich sich dahin gebracht hat? ( man kann diese peinlichkeit auch anstelle derer
sehen die sich von ihr nicht beindrucken lassen wuerden, hausbesitzer,
bankmanager, lehrer usw.) medienkunst ist alleine, oder zu sehr grossen 
teilen aus
ihrer gesellschaftlichen funktion erklaerbar, aus einem vermittlungsbedarf
heraus, vor allem aber ist sie laengst erklaerbar und lesbar aus einem internen
markt heraus, der recht formal operiert und ausdifferenziert zu lesen ist, es
geht dabei um produktreihen, und auch die institutionen schaffen einen 
mitunter eigenen
markt, wichtig waere also zu betrachten, wie kunst kapitalismus abbildet, 
karrikiert,
ihm vorweglaeuft, oder ihn verdeckt und ertraeglich zu machen versucht,
das hat florian cramer schon erwaehnt. und: kann ein kunstwerk, nachdem
es dokumentiert hat wie es dahin gekommen ist, darueberhinaus noch etwas
vermitteln? gibt es da diesen "mehrwert", das war eine beliebte frage, und 
diese
oekonomiedebatten sind durchaus noch aktuell, im gegensatz zu vielem anderen.
wie bemisst man diesen "mehrwert"?. siehe christo, weil die erzielung
eines bestimmen effektes (adressieren eines in nachfrage befindlichen
diskurses) ja gerade das legitimationsinstrument eines werkes ist, teil seiner
vermittlungsmaschine wird.

medienkunst ganz besonders, hat aus einem modernisierungdruck heraus,
das beduerfnis sich besonders autonom zu geben, autonom vom kunstbetrieb,
als eigener kunstbetrieb, das ist eine der leistungen von weibel und co.
dabei ist es quatsch auf dauer davon auszugehen, dass es neben der 
zeitgenoessischen
kunst, die mit einiger verzoegerung, neue medien in ihren werkekanon 
mitaufnimmt,
eine solche unabhaengige technische medienkunst geben muss, alleine aus der
logik der mittel, bzw. ihrer marktpraesenz und wirkungsmaechtigkeitsgebaren 
heraus.
medienkunst schafft einem in seiner funktion durch neue medien bedrohten
buergertum eine pufferzone der verklaerung und verspaetung schaffen um 
nicht mit den
ingenieuren direkt in kontakt kommen zu muessen, medienkunst laesst sich
zu grossen teilen aus dem gesellschaftlichen vermittlungsbedarf erklaeren, was
ihren legitimationsanspruch, nachdem die jeweiligen standards integriert 
wurden,
empfindlich schmaelert, und weitere nebelgranatenwerferveranstaltungen nach 
sich
ziehen muss.

dank kittler, ueber dessen kunstansatz wir gluecklicherweise nicht
diskutieren muessen, wurde dieser "gap" wesentlich schmaler, und
damit der legitimationsraum der medienkunst je nach kenntnishorizont
vakuum-aehnlich, also geht es darum weiter auszuholen, andere themen
anzudocken, was das ZKM ja ganz gut macht, zusaetzlich zur technikpaedagogik,
zum mit-mach-kabinett, oder dem waghalsigen cross over zur 
zeitgenoessischen kunst,
wie zuletzt bei der transmediale.

es geht also nicht mehr darum, moeglichst ominoes zu
umschreiben wie ein computer funktioniert, und was er kulturell bewirkt,
oder auf der anderen seite nuechtern zu konstatieren dass code so dermassen 
alles durchzieht,
das bereits ein paar zeilen perl an der wand einen preis verdient haben,
und kybernetik als koenigswissenschaft einen gewissen retrocharm mit sich 
bringt,
sodass man die naechsten 20 jahre rechenzentren als den geburt einer neuen 
aesthetik
feiern muss, das sind leider modische effekte, die zum glueck 
voruebergehen, mit
der verbreitung wieder neuerer technologien. incl. der ahnengalerie
von neumann, touring, shannon und deren repetitive aesthetisierung. dieses
instistieren auf urvaeter und urszenen ist akzeptiert und kann dann 
abgehakt werden.
es ist eine gute grundlage, aber kein dauerticket.

was ist aber, wenn wie oft verkuendet wird, heute ideen und wissen mehr
zaehlen als dinge. es geht vielleicht
bei der medienkunst darum sich vorzustellen, was nach den medien
kommt, also ihre materialien radikal zu hinterfragen, statt zum x-ten
mal das rattern eines zusecomputers, die lustigen ascii-codes der
rechenzentrumskuenstlerpioniere, oder c64 tunes zum besten zu geben.
das ist laengst in den bereich der folklore uebergegagen und wird
hier kompetent erledigt. leider gilt aehnliches fuer den aktivismus, und
weil der betrieb so unerbittlich hungrig ist beim prozessieren von
vorschlaegen und einfluessen, zu temporaeren moden,
macht es durchaus sinn sich davon abzuwenden.

im uebrigen ist kunst immer medienkunst, da sie sich mit
dem gegenstand ihrer vermittlung, und sei es ein "inhalt" oder "thema"
intensiv auseinandersetzen muss. gute kunst ist selbst wenn sie alleine
aus ideen besteht per definition 'radikal', das heisst grundlagenforschung,
und in eben diesem sinne 'materialistisch'. wenn sie das auf konsequente
weise ist, braucht es keine museen, keine schuetzenden weissen raeume
damit das selbstverstaendlich wird. dennoch sollte man das arbeiten an der
wand in einer galerie nicht einfach abtun, es hat seine reize. nur der 
"bedeutungsraum",
auch als "aura" bezeichnet, wird heute medial so durch kapital gesteuert,
siehe flick der die ganze sammlung in ca. 3 jahren zusammengekauft hat,
was kann man da fuer einen kunstbegriff aufbauen, wozu andere 30 jahre
brauchen??? dieser zynismus des marktes muss letztlich auf die qualitaet
selbst zurueckschlagen, sie im uebergang erst "sexy machen" und dann
zu muell verarbeiten, und zwingend zu anderen  ausdrucksraeumen finden
muessen, die umso wirksamer sind, je weniger sie sich einem kunst-diskurs
beugen muessen. das klingt altmodisch, aber die frage ist, was hat in
50-100 jahren noch bestand, eine alte frage der kunst. und der produkivitaets-
wahnsinn heute, ist dann doch sehr auf die kurzfristigkeit aus, die man
zu lebzeiten noch auskosten kann. in der oekonomie wie in der kunst.

bestand wird aber nur haben, was hier weit mehr ins risiko geht, und
sich wirklich absetzt, und nicht nur seine setzungen geschickt in szene
setzt. je mehr kunst, etablierte kunst im nachhinein komplett irrelevant
gemacht werden kann, gerne auch die kunst der letzten 20 jahre,
desto wichtiger wird die kunst sein die dieses vollbringt. wenn man
die freiheit des marktes schon anerkennt, dann bitte so konsequent wie
moeglich, als zerstoererische kraft, die all das mittelmass, so wohlmeinend
es sein mag, zu teurem staub werden laesst. dieser insgeheime
selbstzerstoerungswille ist nun auch hier und da schon als "dekadenz"
symptom attestiert worden... und da diese aufgabe dann doch nicht
so angenehm ist, muss man ja auch nicht unbedingt sich kuenstler schimpfen,
ausser es gibt ein paar gratifikationen mitzunehmen... ok, es wird zum
stammtischgespraech.


>Teilweise widersprechen würde ich diesem Satz:
>
> > >das Museum und dessen Ordnung. Zwei Strategien dominieren den
> > >Entwurf von Kunst: die Zweitverwertung anderswo entwickelter ästhetischer
> > >und technischer Standards
>
>Dies gilt erst seit ungefähr den 1980er Jahren, seit denen es (bildende)
>Kunst zunehmend aufgegeben hat, eigene Ästhetiken bzw. Bildsprachen zu
>entwickeln. Besonders eklatant sichtbar war dies auf den letzten beiden
>Documentae.

das heist immer noch "dokumentas" im plural. niemand (ausser dem
aussterbenden altsprachlichen bildungsbuergertumsverfechter) kaeme auf die
idee das waere latein, es ist eingedeutscht, so wie "wilhelma", oder nicht?
es ist, und das meine ich ernst, ein fortschritt was media markt und
dieter bohlen machen, es ist eine angleichung die aufgeblasene
worte durch funktionierende ersetzt, da muss man erstmal durch, genuesslich.
im uebrigen halte ich den begriff "bildsprache" fuer noch fragwuerdiger
als "dokumentas".

im uebrigen ganz d'accord, zu hoffen ist das die naechste documenta nicht
die selben fehler begeht und die zahl der kopien minimiert, waehrend sie
gleichzeitig das zeitalter der technischen reproduzierbarkeit, mit erheblicher
verzoegerung, ausruft und allueberall videoboxen installiert, anstatt damit
wenigstens auch das kasseler cinemax zu bespielen, und am besten noch
3sat bei nach dazu. also: dokumenta-tv ! mit recht auf download/privatkopie.

und wenn ihnen diese idee zu radikal erscheint, so frage ich sie warum...

und jetzt die nächste flasche...