[rohrpost] lass uns lieber nicht ueber kunst reden

Florian Cramer cantsin at zedat.fu-berlin.de
Fre Feb 18 14:31:08 CET 2005


Am Donnerstag, 17. Februar 2005 um 20:27:02 Uhr (+0100) schrieb Pit
Schultz:

> stefan nimmt auf was in den neunzigern gaengige praxis war, und
> institutionskritik, spaeter kontext kunst genannt wurde, 

...und das eine riesige Sackgasse war, weil dort Kunst irrigerweise
mit Kultur gleichgesetzt wurde. Dies war auch der Fehler der
Neoavantgarden der 60er Jahre, einschließlich Fluxus, der Mail Art- und
Punk-Kultur der 70er und 80er Jahre und des Schlagworts "Netzkultur" in
den 90er Jahren. Im Ergebnis führt diese Vermengung zu einer
Soziokultur, die als solche interessant und produktiv sein mag, aber als
Kunst per se noch nicht taugt.  Das scheint mir auch der Kern von
Matthias' transmediale-Kritik zu sein, die ich zumindest in ihren
Einzelanalysen von Camille Utterback & Co. teile. 

Aus einer materialistischen Perspektive - und hier liefert Marx als
gnadenloser Ökonomiker gute Analysewerkzeuge - hat es eine Autonomie der
Kunst nie gegeben und ist schlechterdings undenkbar. Was es sehr wohl
geben kann, ist eine intellektuelle Souveränität und soziokulturelle
Unverträglichkeit von Kunst.  Elitäre Ästhetiken vom Symbolismus bis
zur Neuen Musik sind ein Beispiel, faschistische Avantgarden von
Marinetti bis Pound ein weiteres, aber auch, jenseits vermeintlich
bürgerlicher Künste, z.B. pornographische Obszönität oder der
Laibach-/NSK-Slogan "Kunst und Totalitarismus schließen einander nicht
aus". Und diese Unverträglichkeit läßt sich manchmal nicht als
postmoderne Ironie oder Camp soziokulturell eingemeinden, sondern bleibt
unverträglich, z.B. im Nazirock-Song "Söldner" von Störkraft, den ich
für einen der besten Rocksongs der 90er Jahre halte, oder in dem extrem
verstörenden, Gerard Damiano zugeschriebenen 70er Jahre-Pornofilm
"Waterpower" <http://www.imdb.com/title/tt0076907/>.

> kunst soll also heute wieder autonom werden, weil sie die freiheit der
> kunst die freiheit des marktes, des kunstmarktes, versteht sich, auf
> so wunderbare weise "ergaenzt" 

Das Problem liegt im Terminus "Kunst", der immer wieder zu
Mißverständnissen führt, nicht anders als "Medien". Ralf Hellmanns
Beitrag führt, so finde ich, gut aus, was eigentlich mit Kunst gemeint
sein sollte. Das Problem ist, daß "Kunst" aber parallel dazu als
Abkürzung für "bildende Kunst" und, noch spezieller, "bildender Kunst
der Gegenwart" verwendet wird. Dies ist eine Arroganz des sog.
Kunstbetriebs (der ja nur ein Betrieb bildender Gegenwartskunst ist, und
ferner bloß solcher bildender Gegenwartskunst, die sich ausstellen
läßt), die abgeschafft gehört. Ein Bewußtseinswandel, den die Aktions-
und Kontextkünste seit den 60er Jahren eigentlich herbeigeführt haben
sollten.

> in diesem sinne markiert die derzeitige debatte um politisierung, oder
> gar re - polititisierung praktisch gesehen ihr genaues
> gegenteil. naemlich das politik-verstaendnis einer totalen mediokratie
> wie es die regierung schroeder in abfolge zu kohl verstanden hat zu 
> etablieren,

Völlig einverstanden, Pit.

> stellt? und wieso ist benjamin so ausweichend, so verdammt intellektuell
> nicht zu greifen, wenn er persoenlich ganz praktisch ebenso flieht. 

Weil sich seine Position nicht einfach festlegen läßt, sondern auf
höchst eigentümliche Weise spätromantische, marxistisch-linke,
lebensphilosophisch-rechte und jüdisch-eschatologische Denkfiguren
vermengt.

> es geht also nicht mehr darum, moeglichst ominoes zu
> umschreiben wie ein computer funktioniert, und was er kulturell bewirkt,
> oder auf der anderen seite nuechtern zu konstatieren dass code so dermassen 
> alles durchzieht,
> das bereits ein paar zeilen perl an der wand einen preis verdient haben,

Warum nicht? Es sind ja auch nicht immer monumentale Epen und Balladen
die beste Lyrik, sondern ein Vierzeiler kann sie locker übertreffen.
Insofern war die Prämierung von ein paar Zeilen Perl im
Medienkunstbetrieb ein wichtiger Erkenntnisfortschritt gegenüber der
Prämierung von hochkomplexen, aber künstlerisch dummen und naiven
interaktiven Installationen mit Millionen von Codezeilen. [Aber falls Du
auf den Preis für die "Forkbomb" auf der tm.02 anspielst, so gebe ich
Dir recht, da hat die Jury auch meiner Meinung nach fehlgegriffen. Ich
hätte aber sehr wohl der einzeiligen, dreizehnbuchstabigen Forkbomb
":(){ :|:& };:" von jaromil einen Preis gegeben. Daß der
transmediale-Preis ihn dazu provoziert hat, sie quasi aus Wut zu
schreiben, war immerhin ein gutes Ergebnis der Prämierung.]

> das heist immer noch "dokumentas" im plural. niemand (ausser dem
> aussterbenden altsprachlichen bildungsbuergertumsverfechter) kaeme auf die
> idee das waere latein, es ist eingedeutscht, so wie "wilhelma", oder nicht?

Die "Documenta" schreibt sich immer noch mit lateinischem "c" und
ist ein bürgerliches Produkt der 50er Jahre. Vielleicht können wir uns
ja auf "Documenten" einigen?!

-F

-- 
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