Stockhausen und das Internet (war: [rohrpost] Heidenreich - Der
Kunstexperte)
Florian Cramer
cantsin at zedat.fu-berlin.de
Fre Feb 18 15:16:12 CET 2005
Am Freitag, 18. Februar 2005 um 11:54:17 Uhr (+0800) schrieb Tilman
Baumgärtel:
> So interessant Stockhausen als Figur auch ist, so wenig passt sein
> zentrales kompositorisches Anliegen heute noch in die Landschaft -
> oder genauer gesagt, das Interesse, dass ihn zu der Handvoll von
> elektronischen Kompositionen bewegt hat, wegen der er heute immer als
> "elektronischer Komponist" betrachtet wird: Nämlich die elektronische
> Musik nach Prinzipien zu organisieren, die aus der seriellen Musik
> kommen. Das hat in der Popmusik/Clubkultur zum Glück niemand
> nachgemacht, sonst würde sie nämlich niemand hören wollen.
Das ist die Frage. In historischer Sicht steht der Versuch,
elektronische Musik nach seriellen Prinzipien zu komponieren, an der
Schwelle von Orchesterkomposition im traditionellen westlichen
Klang-Parametersystem der temperierten Stimmung von zwölf Halbtönen pro
Tonleiter, der in gebrochenen Zweierpotenzen aufgelösten Tondauern etc.
einerseits und dem Komponieren mit technisch-physikalisch definierten
Klangparametern jenseits des traditionellen Systems andererseits.
Stockhausens Anwendung des Reihenprinzips auf alle Klangparameter, das
auf Webern zurückgeht, war schlicht der Versuch, die neuen
Kontrollmöglichkeiten elektronischer Klangerzeugung kompositorisch in
den Griff zu bekommen, ohne in alte tonale und rhythmische Klischees zu
fallen. Dieser Ansatz führte zu einer akademischen Entwicklung
elektronischer Musikinstrumente und später -Software, die anders als
z.B. der für die Popmusik konstruierte Moog-Synthesizer eben nicht dem
alten Klavier nachmodelliert war, sondern Komponisten und Musikern
jenseits traditioneller Musikinstrumenten-Logik möglichst
uneingeschränkten Zugriff auf die analogen und später algorithmischen
Möglichkeiten elektronischer Klangerzeugung und -manipulation bieten
sollte.
Ein Resultat dieser Bemühungen war das (am staatlichen, französischen,
bürgerlich-hochkulturell-elitären) IRCAM-Institut entwickelte Programm
"Max" sowie sein Nachfolger "PD", mit dem heute fast alle elektronischen
Experimental-Clubmusiker sowie Audiokünstler und VJs arbeiten. [Weil
damit Dinge möglich sind, die im tonalen und metrischen Raster eines für
Mainstream-Pop konzipierten Cubase eben nicht vorgesehen sind.]
An diesem Beispiel zeigt sich auch, daß die Verbindung von Technik- und
Kunstgeschichte keine einseitige, sondern eine dialogische ist, also
nicht einfach die Künste linear aus technischen Innovationen
hervorgehen, sondern selbst an der Technikentwicklung partizipieren,
Technik teilweise nach ihren Vorstellungen modellieren, und dadurch
wiederum in andere Bereich der Künste wirken.
> Ob deren Musik jetzt wirklich "komplexer" oder "subtiler" ist
> als elektronische Popmusik, möchte ich mal bezweifeln. Da schwingt ein
> gewisses bildungsbürgerliches Ressentiment gegen Popkultur mit.
Über Geschmack läßt sich schwer streiten. Dennoch möchte ich mal eine
Club-Produktion auf dem musikalischen Niveau von Stockhausens "Kontakten"
sehen. Es ist nun einmal eine Tatsache, daß die alten bürgerlichen
Künste - komponierte Musik, Theater, Literatur - ein formales
Niveau haben, an die Popkultur selten herankommt, das sie aber durch
andere Strategien (Komplexität von Zitierungen und Parodie, Experiment
mit Technik und Distributionspolitik, Geschwindigkeit des
Sich-selbst-Neuerfindens) kompensiert.
> Aber es gibt jenseits von Kunstmarkt und staatlicher Förderung auch noch
> andere Wege, sich eine gewisse künstlerische Autonomie zu erhalten. Andere
> - und wesentlich einflussreicherer - Vorbilder der elektronischen Musik
> sind auch lange ohne Staatsknete ausgekommen: John Cage war den grössten
> Teil seines Lebens ein armer Mensch (daher auch der Pilzsammel-Fimmel) oder
...und hat sein Einkommen auch in Deutschland durch Darmstädter
Ferienkurse und WDR-Produktionen (wie "Roaratorio") verdient. Auch fast
alle amerikanischen Fluxuskünstler sind z.B. wegen der staatlichen
Kunstförderung nach Deutschland gekommen und dort z.T., wie etwa Emmett
Williams und Ben Patterson, hängengeblieben.
> >In Literatur und Dichtung hat Kommerz- und Popkultur
> >bis heute nicht einen einzigen guten Schriftsteller hervorgebracht,
> >höchstens gute Drehbuchautoren.
>
> Wieder so ein Hochkultururteil, damit fangen wir jetzt besser gar nicht
> erst an. Aber die besten Gedichte aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg
> sind wahrscheinlich Songtexte,
Wir reden lieber nicht z.B. über Celan, Bayer, Christensen, Queneau,
Ashbery, Mayröcker, Kling, um nur mal unsystematisch Namen aus dem Hut
zu ziehen. Sorry, aber das ist genauso ignorant wie ein hypothetisches
(übrigens durchaus vorstellbares) Argument auf einer
Lyriker-Mailingliste, daß die beste elektronische Kunst nach dem
Zweiten Weltkrieg auf MTV zu sehen sei.
-F
--
http://cramer.netzliteratur.net