Stockhausen und das Internet (war: [rohrpost] Heidenreich - Der Kunstexperte)

Tilman Baumgärtel mail at tilmanbaumgaertel.net
Mon Feb 21 14:43:10 CET 2005


At 22:16 18.02.2005, Florian Cramer wrote:
>Am Freitag, 18. Februar 2005 um 11:54:17 Uhr (+0800) schrieb Tilman
>Baumgärtel:

Au wei, was soll man zu all dem sagen. Ich greife mal nur eins heraus:


>Über Geschmack läßt sich schwer streiten. Dennoch möchte ich mal eine
>Club-Produktion auf dem musikalischen Niveau von Stockhausens "Kontakten"
>sehen. Es ist nun einmal eine Tatsache, daß die alten bürgerlichen
>Künste - komponierte Musik, Theater, Literatur - ein formales
>Niveau haben, an die Popkultur selten herankommt, das sie aber durch
>andere Strategien (Komplexität von Zitierungen und Parodie, Experiment
>mit Technik und Distributionspolitik, Geschwindigkeit des
>Sich-selbst-Neuerfindens) kompensiert.

Dass Argument, dass Musik "regressiv" ist, wenn sie rhythmisch und tonal 
ist, ist schon gegen die Minimal Music gerne in Anschlag gebracht worden.

Auch "Clubmusik" mag in punkto Harmonie und Rhythmus stumpfer sein als 
Stockhausens "Gesang der Jünglinge". Aber das stimmt natürlich nur, wenn 
man glaubt, dass sich Musik entlang des grossen, modernistischen 
Fortschrittspfeil nur in immer unzugänglichere Gefilde *weiter* entwickelt, 
bzw. "formale Qualität" hat. Das interessante an Minimal/Clubmusik ist aber 
eigentlich, dass sie genau diese modernistische Idee des *Weiter* ad acta 
gelegt hat.

Auch bei der seriellen Musik geht es ja letztlich um die Anwendung von 
einer sehr rigiden Struktur auf Musik - nämlich der Reihe. Diese Struktur 
ist im Gegensatz zu den simplen Patterns von Techno nur eben so 
kompliziert, dass man sie oft nicht mal kapiert, wenn man die Partitur vor 
sich hat.

(Und deswegen muss sich Stockhausen auch mit seinen über 70 Jahren immer 
noch vor Konzerten vorne hinstellen und dem werten Publikum erklären, wie 
man seine Musik zu verstehen hat und wie man beim Zuhören den Kopf halten 
muss (!). (So gesehen bei einer Aufführung von Telemusik in der Berliner 
Nationalgalerie vor ca. zwei Jahren...))

Die Reihe war aber vor allem ein Methode, um die Komponistensubjektivität 
aus dem Prozess des Musikschreibens verschwinden zu lassen und durch eine 
"objekte" Methode des Komponierens zu ersetzen. Ich finde, dass heute jedes 
drittklassiges DJ Tool diesem Ziel der "objektiven", nicht-subjektiven 
Musikkomposition näher kommt. Im Fall von Stockhausen hat die serielle 
Methode zum genauen Gegenteil geführt. Um die Schöpfer einer "objektiven" 
Musik ist ein besonders absurder Subjektitätskult veranstalte worden. Bei 
Leute wie Stockhausen, Boulez etc ha das nicht zuletzt auch zu 
grosszügigster staatlicher Protektion geführt.

Was die Produktion von aussergewöhnlichen Geräuschen betrifft, auf die 
Stockhausen durch seine Methoden gekommen ist (die "Toilettenspülungen im 
Weltall"), gebe ich Dir aber recht. Die sind wirklich immer noch 
unglaublich. Allerdings braucht man dafür nicht diese Stockhausensche 
Zufalls-Zahlenmystik oder Max, sondern kann genauso durch gezieltes 
Experimentieren mit "herkömmlicher" Technik auf erstaunliche, elektronische 
Sounds kommen; das Feedback ist zum Beispiel nicht von E-Komponisten 
entdeckt worden.

Mann kann übrigens genauso gut argumentieren, dass eigentlich Stockhausens 
Musik "unterkomplex" ist, weil sie ihre Ideen nicht entwickelt, sondern 
ohne erkennbare Ordnung auf den Zuhörer einprasseln lässt. Es kann auch 
eine "formale Qualität" bzw. ein schlüssiges Konzept sein, fünf Minuten 
lang ein Sequenzer-Pattern laufen zu lassen und dabei den Filter auf- und 
zu zudrehen, wie in tausendundeinem Techno-Stück, statt wie in Stockhausens 
"Mikrophonie" harmonisches Material und Filter-Modulation

Sehr interessant ist in diesem Zusammenhang die Gegenüberstellung, die ein 
englischer Radiosender mal mit Stockhausen und diversen Techno-Musikern 
gemacht hat und die Stockhausen auf seiner eigenen Website 
wiederveröffentlicht hat:



(Die Zeit hat mal was ähnliches mit Stockhausen und Krautrock gemacht, da 
kam er noch arroganter rüber...)

Ich will hier aber gar nicht Techno gegen Stockhausen ausspielen, weil ich 
nicht sehen kann, was das bringen soll. Aber diese Trennung von Hoch- und 
Pop-Kultur, die Florian hier aus der Gruft geholt hat, lässt einen halt 
übersehen, wieviele Verbindungen und Einflüsse in beide Richtungen es gibt 
(Cool Jazz -> La Monte Young -> Velvet Underground -> Andy Warhol etc). Die 
ist nämlich im besten Fall genauso "dialogisch" wie die zwischen 
Medienkunst und Technologie... ;-)

Gruesse,
Tilman