[rohrpost] Geert's Artikel

Florian Cramer cantsin at zedat.fu-berlin.de
Mon Feb 28 21:17:25 CET 2005


Am Montag, 28. Februar 2005 um 19:38:08 Uhr (+0100) schrieb nabokov:

> ich habe gerade den Artikel in Lettre gelesen. Da
> hattest du gesagt, dass Medientheoretiker
> programmieren können sollten. 

Das war ein Zitat aus einem rohrpost-Beitrag von mir, das ich gerade
nicht zur Hand habe, aber, falls mich meine Erinnerung nicht sehr trügt,
nicht auf sämtliche Medientheoretiker gemünzt war, sondern nur auf
solche, die sich mit Computern, Software und Computernetzen
befassen. Es ging darum, daß es so, wie es z.B. für Musikwissenschaftler
selbstverständlich ist, Partituren lesen und als Klavierauszug spielen
zu können, ein Computer-Medienwissenschaftler wenigstens in der Lage
sein sollte, ein einfaches Basic-Programm zu schreiben.

> Nun mal eine ganz naive
> Frage: Es gibt doch ein Verhältnis zwischen dem
> sichtbaren Ablaufen eines Programms, seiner
> sogenannten Oberfläche und dem Code des Programms.

Sehr ähnlich verhält es sich ja mit Partitur und Aufführung in der
Musik (und Partituren für mechanische Instrumente sind in der Tat
Programmcodes). 

> Aber ist der Code nicht auch nur eine Oberfläche - für
> den Programmierer? 

Gewiß. Allerdings gibt es einen relevanten Unterschied. Der
Perl-Einzeiler 

"print int(rand(10))"

...druckt auf der Kommandozeile eine Zufallszahl zwischen 0 und 9 aus.
Beobachtet man dieses Programm nur auf der Ebene seines sichtbaren
Ablaufs bzw. seiner Ausgabe, dann kann man nur durch Raten und
aufwendige Wahrscheinlichkeitsanalyse - oder, in Programmierer-Jargon:
"reverse engineering" - darauf schließen, wie es funktioniert. Auf
dieser Differenz beruhen sämtliche Geschäftsgeheimnisse und -modelle der
kommerziellen Softwareindustrie. Nun kann man als sog.
Medientheoretiker, wie z.B. Lev Manovich, bewußt einen
phänomenologischen Ansatz wählen und sich allein die Outputs und deren
Ästhetik ansehen. Dies jedoch zu tun, weil man die "print
int(rand(10))"-Ebene schlicht nicht kennt und versteht, steht jedoch auf
einem anderen Blatt. Und dann passieren eben Dinge wie die Verleihung
einer goldenen ars electronica-Nica an einen gewöhnlichen, noch dazu auf
third-party-Code basierenden Ethernet-Sniffer, weil die Macher sich
selbst geschickt als "Radical Software Group" und ihr banales Produkt
unter dem Namen "Carnivore" vermarkten.


> Der Code, der kann ja praktisch
> gedacht wichtig sein, aber eigentlich interessant wäre
> doch das Verhältnis zwischen dem Binärcode und der
> Programmierungssprache, oder? 

Wobei die Programmiersprache, wenn es sich um eine "echte" (d.h.
Turing-vollständige) handelt, alle Funktionen zur Verfügung stellt, die
auch der Binär-Maschinencode bietet.

Ich stimme Dir zu, daß die Differenz von Programmiercode und
Programmablauf dazu verführt, gewissermaßen einem Hardware-Platonismus 
aufzusitzen. (Dahingehend kann man auch die technische Medientheorie
der Kittler-Schule kritisieren.) Ich halte "Oberflächen" bzw. "Interfaces"
nicht per se für einen trügerischen Abglanz einer Hardware-Wahrheit,
sondern die Frage ist, wie - wiederum in Programmierjargon - "mächtig"
diese Oberflächen sind, "mächtig" nämlich im Sinne eines technischen
empowerment statt einer Entmündigung der Nutzer. Unix-Shells,
LISP-Umgebungen, aber auch das originale von Alan Kay konzipierte
Smalltalk-/Squeak-GUI sind solche mächtigen Oberflächen, weil sie
Turing-vollständigen, programmiererischen Zugriff auf Computer erlauben;
ebenso, wie ein Klavier ein "mächtigeres" Instrument ist, wenn es nicht
nur Fertig-Software in Form vorgestanzter Pianola-Rollen abspielen kann,
sondern auch eine Tastatur besitzt, oder ein Herd ein mächtigeres
Kochinstrument ist, wenn er nicht nur Fertiggerichte aufwärmen kann.

Es gibt viele Medienwissenschaftler, die über Computer theoretisieren,
sie aber nur als Instant-Produkt aus Anklick-Bedienperspektive kennen -
analog zu hypothethischen Musikwissenschaftlern, deren Kenntnis von
Musikinstrumenten sich aufs Schallplattenhören (nicht einmal Mixen oder
Scratchen) beschränkt, oder Restaurant-Kritiker, die weder kochen
können, noch etwas von Lebensmitteln verstehen.  

Insofern war meine Forderung weder originell, noch provokativ, sondern
bestürzend banal!

> Also, wenn man eine
> eigene Programmiersprache schreiben würde, dann würde
> man schon ein bisschen mehr durchblicken. Source-Code
> schreiben ist ja dagegen nicht besonders erhellend. 

Ich gebe Dir ja recht, aber man könnte heutzutage schon über solche
banalen Mindeststandards glücklich sein. 

> Der Code ist eher so ein Symbol für Tiefsinnigkeit,
> weil man keine Religion mehr hat und der
> „scholastische Ideenhimmel“ auch aus der Mode gekommen
> ist. So eine Art Ersatz, wo eher eine Sehnsucht sich
> ausdrückt.

Man kann es ja, wie oben, tiefer hängen. Wenn man von einem
Restaurantkritiker oder Ernährungswissenschaftler erwartet, daß er einen
Kochlöffel bedienen kann und ein strukturelles Mindestverständnis seines
Metiers hat, ist man noch lange kein Scholastiker. Aber es gibt diesen
Vorwurf (und das geht jetzt nicht gegen Dich) oft von Leuten, die
insgeheim genau wissen, daß ihnen das Mindest-Handwerkszeug für
Computer-Medientheorie in Gestalt eines Informatiker-Erstsemesterwissens
fehlt. 

> Also unter Medientheoretiker würde ich mir dann eher
> jemanden vorstellen, der auch mal eine Kamera führen
> kann, Audio schneidet, weiß, wie eine
> Zeitungsredaktion aussieht, wie das Drama-Schema von
> einem Hollywoodfilm aussieht, wie Theater von innen
> funktionieren, wie PR läuft, wie Wirkungen erzeugt
> werden sozusagen, vielleicht auch wie man eine
> Ausstellung wirkungsvoll aufstellt oder Radio macht
> usw.

Jetzt sind wir wieder mitten in den Problemen, die die unseligen
Begriffe "Medientheorie" und "Medienwissenschaft" wegen ihrer Unschärfe
kreieren. Unter dem Label "Medienwissenschaft" segeln eben völlig
verschiedene Disziplinen, (a) eine publizistisch orientierte
Medienwissenschaft, wie Du sie oben beschreibst, (b) eine
interdisziplinäre Kunstwissenschaft [der die von Dir beschriebenen
Praxiskenntnisse ebenfalls gut anstehen] und (c) schließlich eine auf
Computer fokussierte Technik-Kulturtheorie, für welche die o.g.  Punkte
weniger zentral sind.


> Das alles ist dann am Ende für die Zukunft des Netzes
> wichtiger als Source-Code als Gedicht aufzusagen oder
> die ewigen Beschwörungen der Materialität der Medien
> usw. 

Prinzipiell sehe ich da keinen Widerspruch.  Kameraführung und
Computerprogrammierung sind zwei Kulturtechniken, die man als
Theoretiker verstehen sollte, wenn man über Film bzw. Software 
schreibt. Auf der anderen Seite ist die Gefahr Deines Ansatzes, 
einen Konservatismus gerade auch in der praktischen künstlerischen
Gestaltung des Netzes zu befördern. Ich finde es interessanter, sich
eine Website aus einem strukturellen Verständnis von Daten und
Programmierung zu entwickeln, als aus der Dramaturgie von
Hollywood-Filmen (wie man es vielleicht machen würde, wenn man in einer
Agentur arbeitet und einen Produkt-Werbeauftritt kreiiert). 

Sourcecode als Gedicht aufzusagen ist vom Ansatz her nichts anderes als
das, was z.B. Dziga Vertov in seiner radikalen Materialästhetik der
Kameraführung oder Experimentalfilmer wie Stan Brakhage, Peter Kubelka
und Werner Nekes mit ihrer Neuerfindung von Filmsprache aus dem Filmbild
bzw. der Differenz von Filmbildern heraus. Oder die Neuerfindung
der Dichtung aus einem radikalen Zerlegen und Neuzusammensetzen von
Grammatik, Phonetik und Typographie in der Lyrik der russischen
Futuristen, der Wiener Gruppe, der konkreten Poesie und der
amerikanischen language poetry. 

Was man künstlerisch oder für die Zukunft des Netzes wichtiger hält, ist
Ansichts- und Geschmackssache. Im Falle von Computern und Programmierung
muß man aber noch so weit kommen, daß deren technische Basics überhaupt
erst Allgemeingut sind. So weit wie z.B. Musikwissenschaftler, die
das Funktionieren von Musikinstrumenten und die künstlichen Sprachen
von Partituren selbstverständlich kennen und beherrschen, sind
Computer-Medienwissenschaftler noch lange nicht.

-F

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