[rohrpost] Medientheorie - Das Wikiexperiment

Florian Cramer cantsin at zedat.fu-berlin.de
Don Nov 25 03:20:25 CET 2004


Am Mittwoch, 24. November 2004 um 22:08:20 Uhr (+0100) schrieb nabokov:
 
> Es kann ja auch eine Erklärung sein, was die Tagung
> soll. Oder wo die zur Zeit gängige Medientheorie irrt.

Ein Punkt wurde doch hier benannt: Daß Medientheorie bis heute den
Gegenstand, über den sie spricht, nämlich Medien, entweder gar nicht
definiert,  oder durch Sender- und Empfängermodelle oder
Form-/Prozeß-Unterscheidungen, die für Phänomene wie Computersoftware
nicht gut funktionieren (und durch die Aufhebung von Original und Kopie
von Computerdaten oder Verteilungssysteme wie peer-to-peer-Netze
erheblich komplexer formuliert werden müssen. Die Sender- und
Empfängerpositionen von Daten z.B., die über bittorrent getauscht
werden, haben eine technische Komplexität, die eine klassische
Medienwissenschaft bis vor kurzem schlicht nicht auf der Rechnung haben
konnte). 

> Dass das so nicht klappt, war klar, als das Wiki
> eingerichtet wurde und von der Methode her nicht
> durchdacht war 

Welcher Formalismus hätte Dir denn vorgeschwebt? 

> Bestehende Theorien sind unzureichend für die
> Betrachtung zeitgenössischer Kultur.
> Jeder, der schon einmal ein Buch über Medientheorie
> geschrieben hat, kann das ja nur als Beleidigung
> empfinden. 

Nein, nur dann, wenn man einen verqueren absoluten Gültigkeitsanspruch
an eine Theorie stellt und sie für von jeder Kritik entrückt hält.
Ansonsten gehört es zum Selbstverständnis kritischer Theorie, daß man
sie kritisieren kann, und zwar auch dann, wenn man kein ausgewiesener
Theoretiker ist.

> Jeder, der gewohnt ist, über etwas
> nachzudenken, fragt sich: Was ist mit „bestehenden
> Theorien“ gemeint. Für was sollen sie unzureichend
> sein? Für die Betrachtung? Theorie kommt doch
> irgendwie sowieso vom altgriechischen Wort „Sehen“
> (wie übrigens auch Theater). Was ist das also für ein
> tautologischer Blödsinn? 

Übersetzt also: "Bestehende Betrachtungen [Theorien] sind unzureichend
als Betrachtung zeitgenössischer Kultur". Was ist daran tautologisch?

Ansonsten: Warum kritisierst Du den Text so, als wenn er abgeschlossen
wäre, warum änderst Du ihn nicht, wenn Du ihn für fehlerhaft hältst?  -
[Ich weiß, die fehlende Methode.]

> Also, wie ich die wissenschaftliche Rhetorik verstehe,
> geht das doch normalerweise so vor sich: 

Eben, was Du beschreibst, ist Rhetorik. -

Davon abgesehen: Die Erwartung, daß ein rohrpost-Diskurs mit
wissenschaftlicher Methodik arbeitet, finde ich deplaziert. Natürlich
sind wir hier nicht in einem universitären Diskurs und schreiben keinen
wissenschaftlichen Text.

> Man
> beschreibt irgendwie, was es für Theorien gibt, indem
> man sie kurz skizziert und Fußnoten dran heftet und
> dann wirft man ein Problem auf, das mit der alten
> Theorie nicht gelöst werden kann. 

S.o.. Jeder Anspruch, daß die rohrpost oder das Wiki eine neue
Theorie formulieren kann, wäre vermessen. Der Text ist, in seiner
jetzigen Form, ein grob skizziertes Profil einer Medienkritik, wie sie
sich verschiedene rohrpost-Mitglieder wünschen, vor dem Hintergrund
ihres eigenen Umgangs mit sog. Medien.

Doch zu Deiner skizzierten Methodik: Keine der Kunsttheorien von
Benjamin bis Foucault, die ich genannt hatte, verfährt nach dem Muster,
das Du oben entwirfst, mit der Ausnahme des Meta-Theoretikers Derrida
(dessen Schachzug es ist, Probleme aufzudecken, um zu zeigen, daß es
keine Lösungen für sie gibt). 

Was Du beschreibst, vor allem mit den drangehefteten Fußnoten [über die
es eine ironische Kulturgeschichte von Anthony Grafton gibt], klingt,
sorry, eher wie die fehlende Definition "deutscher Medientheorie" für
Geert Lovinks Tagung. (Aber damit würde man z.B. Kittler Unrecht tun.) 

> Übrigens hatte ich ja
> die Frage nach dem Wozu der Medientheorie aufgeworfen
> und Sascha Brossmann hatte mir geschrieben, dass es
> kein Wozu gebe oder das erst in Nachhinein entstünde.
> Formuliert man den Satz oben um, kommt heraus: 
> 
> Der Sinn von Medientheorie ist zeitgenössische
> Kultur-Betrachtung.

Wenn das so wäre, wäre es ja nicht der schlechteste Sinn! Man könnte es
aber noch dahingehend präzisieren, daß es um eine Betrachtung der Kultur
hinsichtlich ihrer (Informations-)Technologien geht, also um eine
Kulturkritik, die Kulturtechniken fokussiert.

-F 

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